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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


„Meine Grete – ein scheuer Vogel, wie Sie sehen!“ hatte der Papa mit der Hand nach ihr hingewinkt und damit den Zauber gebrochen. Im panischen Schrecken war der scheue Vogel von der Schwelle geflohen, hatte, verfolgt von einem vielstimmigen heiteren Gelächter, die Flursaalthür klirrend hinter sich zugeschlagen und war die Treppe hinab mehr gestürzt als gelaufen.

Allein Flucht und trotziger Widerstand hatten nichts mehr genützt, die wilde Hummel hatte sich rettungslos auf ein fremdes Gebiet verflogen; Lernbegierde und Wissensdurst waren in der jungen Seele erwacht und hatten sie immer wieder zu Füßen der Erzähler geführt, und als nach acht Tagen der Wagen vor dem Lamprecht’schen Hause gehalten hatte, um die Fortreisenden nach der Bahn zu bringen, da war auch die „unmanierliche Grete“ in Schleierhut und Reisemantel aus der Hausthür getreten, verweinten Gesichts zwar und den letzten Jammerlaut eines schweren Abschiedes auf den Lippen – aber man hatte sie mit nichten in den Wagen schleppen müssen, und sie hatte auch nicht geschrieen, daß die Leute auf dem Markte zusammenlaufen mußten, fest entschlossen und freiwillig war sie mitgegangen, um bei Onkel und Tante zu lernen und sie auf ihren Reisen zu begleiten.

Darüber waren fünf Jahre hingegangen. Margarete war neunzehnjährig geworden und hatte das väterliche Haus nicht wiedergesehen. Ihre Verwandten, vorzüglich den Papa, hatte sie in der langen Zeit öfter, theils in Berlin, theils auf Reisen bei verabredeten Rendezvous gesehen, und in den letzten zwei Jahren waren die Besuche der Großmama in Berlin immer häufiger geworden; sie wollte die Enkelin heimholen; allein Onkel und Tante zitterten bei dem Gedanken an eine Trennung, und das junge Mädchen selbst verspürte nicht die geringste Lust, sich am heimischen Hofe vorstellen zu lassen, und so mußte die Frau Amtsräthin zu ihrem bittersten Verdruß immer wieder allein zurückreisen.

Tante Sophie war, außer Herbert, die Einzige der Familie gewesen, die sich ein Wiedersehen mit „der Gretel“ hatte versagen müssen. Nein, das sollte ihr einmal Niemand nachsagen können, daß sie um einer Freude, eines Herzensbedürfnisses willen den Haushalt je, auch nur für ein paar Tage im Stiche gelassen hätte! Es ging eben nicht und ließ sich vor dem Gewissen nicht verantworten, und da hatte das dumme, alte Herz mit seiner Sehnsucht absolut nichts drein zu reden ... Nun machte sich aber der Ankauf neuer Teppiche und Portieren für die „guten Stuben“ durchaus nöthig, und Tante Sophiens Pelzmantel verlor, trotz Steinklee und Pfeffer, seit Jahren die Haare – er mußte pensionirt werden. Ein neuer Pelzmantel war aber ein theures Stück, das konnte man nicht nur so verschreiben und wie die Katze im Sacke kaufen, eben so wenig wie die kostbaren Teppiche und Portièren; da hieß es gleich vor die rechte Schmiede gehen, und deßwegen dampfte Tante Sophie – viel eiliger als es nöthig, aber doch nur „aus wirthschaftlichen Rücksichten“ – eines Tages nach Berlin und stand plötzlich unter strömenden Freudenthränen in Margaretens Mädchenstübchen. Und was alle bittenden, süßen und strengen Worte der Frau Amtsräthin nicht vermocht, das that der Anblick der unvergessenen mütterlichen Pflegerin; eine heiße Sehnsucht wallte in dem jungen Mädchen auf – sie wollte heim auf einige Zeit, heim, um über Weihnachten zu bleiben; Tante Sophie sollte ihr, wie einst dem Kinde, den Christbaum in der trauten Wohnstube anbrennen. Und so wurde verabredet, daß sie in der Kürze der heimkehrenden Tante folgen solle, aber ganz im Stillen, Niemand durfte es wissen, Papa und Großpapa sollten überrascht werden. –

So geschah es an einem stillen milden Abend zu Ende des Septembers, daß die junge Dame, zu Fuße von der Bahn kommend, den Thürflügel des Packhauses hinter sich schloß und einen Augenblick lächelnd unter dem dunklen Thorwege stehen blieb – sie schien noch auf das Knarren und Aechzen des alten Holzgefüges zu horchen, obschon es sofort verhallt war. Gerade diese Laute hatten in ihr Kindesleben hineingeklungen, so weit sie zurückdenken konnte, in ihre Spiele im Hofe und oft noch aufschreckend in das süße Hindämmern des ersten Schlafes hinein. Und wie oft hatte Tante Sophie erzählt, daß gerade durch dieses Thor, Jahrhunderte hindurch, die Leinenfrachten, dieses goldbringende Handelsgut der Lamprechts, in die Welt hinausgegangen waren! Das hatte die wilde Hummel damals nicht sonderlich interessirt; jetzt aber flog ihr Blick unwillkürlich empor, als müsse er, trotz der Dunkelheit, an der Steinwölbung noch die Spuren der hochgethürmten Planwagen finden können.

In welchem Lichte erschien ihr überhaupt jetzt der stille Hof des alten Patricierhauses, seit sie durch Studium und belehrende Reisen sehenden Auges geworden war! ... Wie festgebannt blieb sie stehen, nachdem sie mit erregt pochendem Herzen einige Schritte vorwärts gelaufen. Unter ihren Füßen raschelte dürres Laub; die mächtig gewachsenen lieben Linden hatten bereits zum größten Theil die Blätter abgeworfen und hinter den Stämmen dunkelten die Mauern des uralten Weberhauses. Heute wie an jedem Abende kam der starke Lichtstrom der großen Wandlampe drüben aus den Küchenfenstern; er legte sich breit über den Hof hin, beschien grell wie immer seitwärts ein ganzes Stück des anstoßenden spukhaften Flügels und hob das mächtige, steinerne Brunnenbecken inmitten des Hofes weiß aus dem Abenddunkel. Und jenes beleuchtete Stück Façade des zwischen das Packhaus und das große, nüchterne, stillose Vorderhaus geklemmten Seitenbaues zeigte zur Ueberraschung der Heimkehrenden den edelsten Renaissancestil, und die Steinfigur, die sich hoch über den vier wasserspendenden Brunnenröhren hell bestrahlt erhob, und nach welcher einst Herbert und später auch Reinhold mit Kieseln geworfen, sie war eine feingegliederte Brunnennymphe vom schönsten Ebenmaße – jeder der vandalischen Steinwürfe von damals entrüstete in diesem Augenblicke noch nachträglich die junge Kunstverständige. ... „Die Thüringer Fugger“ hatten die Kauf- und Handelsherren Lamprecht einst um ihres Reichthumes willen im Volksmund geheißen – in dem Erbauer des Seitenflügels mit dem dazu gehörigen Brunnen hatte aber auch etwas von dem Kunstsinn der berühmten Augsburger Leineweber gelebt; nur daß er seine Schöpfung, in herber, stolzer Verschmähung alles Rühmens und Preisens, der Oeffentlichkeit entzogen und sie lediglich zur eigenen Augenweide und Befriedigung in der Verborgenheit aufgerichtet hatte. So war es recht! Die Tochter des alten Hauses hatte auch ihre Dosis Bürgerstolz im Blute mitbekommen – er trug in diesem Momente der Heimkehr seinen Theil an dem freudig erregten Schlage ihres Herzens. O ja, so ein ganz klein wenig „hochmüthig“ war man! ...

Von der Brunnenfigur hinweg glitt ihr Blick über die Küchenfenster, und sie empfand eine helle Wiedersehensfreude und lachte in sich hinein – da war freilich von griechischen Linien nicht die Rede; Bärbe tauchte aus der Tiefe der Küche auf und trat in den hellen Lampenschein. Sie war noch ebenso bärenhaft vierschrötig und ungeschlacht wie ehemals; das dünne, graue, um den Kamm gewickelte Zöpfchen am Hinterkopfe hatte sich in seiner Position ausgezeichnet konservirt, und das Mundwerk ging flott wie immer – einzelne Laute ihrer spröden Stimme kamen durch das offene Fenster.

Es ging überhaupt sehr lebhaft zu in der Küche. Verschiedene Hände mußten beschäftigt sein, das Geschirr abzuwaschen, denn es klirrte und klapperte ohne Aufhören; Bärbe und der Hausknecht trockneten die Teller, und ein hübscher, junger Bursch in feiner Livrée ging eilfertig ab und zu.

Ohne Zweifel war Diner im Hause. Margarete hatte schon beim Heraustreten aus der finsteren Thorwölbung durch die Flurfenster gesehen, daß droben in der Beletage, im großen Salon, der Kronleuchter brannte. Das überraschte sie nicht; Tante Sophie hatte ihr bereits in Berlin gesagt, daß jetzt immer „Etwas los sei“ zu Hause; zwischen den Leuten bei Hofe und Amtsraths sei große „Herrlichkeit“ und der Papa sei dadurch ein gar gesuchter Mann – und die braunen Augen hatten dabei lustig gezwinkert. ... Ei nun, da war ja die beste Gelegenheit, sich die Herrlichkeit in Bausch und Bogen zu besehen, ohne sich selbst sehen zu lassen, gleichsam von der Tiefe einer Theaterloge aus! Es galt einen Versuch! –

Sie ging durch den Hausflur in die Wohnstube. Da war es sehr dämmerig; das Gaslicht kam schwach durch die Fenster herein und warf nur einen intensiveren Lichtfleck auf die eine Wandfläche, auch auf das Zifferblatt der schönen, großen, wohlbekannten Standuhr. Das behäbig langsame Ticken des alten Inventarstückes berührte die Heimkehrende herzbewegend wie ein Gruß von lieber Menschenstimme.

Tante Sophie war nicht da, sie hatte selbstverständlich oben „alle Hände voll zu thun“; dafür war das ganze, große Zimmer von dem Dufte ihrer Lieblingsblumen erfüllt – auf dem Eßtische

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_090.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2019)