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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Gesichtchen strich. Schweigend nahm sie die Lampe und öffnete die Stubenthüre.

Das Packhaus, das älteste der aus der Urväter Zeiten stammenden Hintergebäude, war ein massiver Bau mit dicken Wänden und tiefen Fensternischen, dessen eigentliche Façade nach Norden, der Straße zugewendet lag. Deshalb wehte den Eintretenden eine so köstlich kühle, eine völlig reine, nur von erfrischenden Resedadüften durchhauchte Luft entgegen. Hier, in dem stillen, trauten Heim der Malerfamilie überließ sich das Kind willig der sanften, freundlichen Frau, die es auf den Schoß nahm, während Herr Lenz Hut, Plaid und Reisetasche ablegte.

„Blanka ist draußen auf dem Gange!“ sagte die Frau als Antwort auf den suchenden Blick, den ihr Mann durch das Zimmer gleiten ließ. „Sie war dabei, ihr Haar für die Nacht zu ordnen, als der Kutscher aus dem Vorderhause bei uns nach Gretchen fragte. Wir hatten freilich schon längst die Unruhe drüben bemerkt; Herr Lamprecht war zu ganz ungewohnter Zeit aus- und eingeritten, und im Hofe wurde jeder Busch durchsucht. Allein wir hielten uns wie immer streng an Deinen Befehl, nichts zu sehen, was in Haus und Hof Deines Principals vorgeht. Seit nun aber der Kutscher dagewesen ist, sitzt unser Kind draußen auf dem dunklen Gange und ist nicht hereinzubringen – das liebe, kleine Ding da ist ihr Augapfel, wenn sie es auch nur vom Sehen kennt – aber, um Gott, Kind, was ist denn das mit Deinen Füßen?“ unterbrach sie sich; das Lampenlicht fiel auf die schlamm- überzogenen Stiefelchen, die über ihrem hellen Kleide herabhingen. Mit hastigen Händen befühlte sie die Säume der zerschlitzten Röckchen, die auch die Nässe des Sumpfbodens in sich gesogen hatten.

„Das Kind ist im Wasser gewesen,“ sagte sie halblaut und alterirt zu ihrem Mann; „es muß so schnell wie möglich in trockene Kleider. Geh, rufe Blanka!“

Er öffnete die Thüre in der Rückwand der Stube. Der Raum dahinter, die Küche, war dunkel, aber durch die gegenüberliegende, weit offene Thüre, die nach dem Gange führte, sah man einzelne Lichter des Vorderhauses herüberblicken.

Auf den Ruf des Vaters eilten draußen leichte Schritte über die knarrenden Gangdielen, dann trat die schöne Blanka aus dem tiefen Dunkel auf die Thürschwelle im weißen, spitzenbesetzten Frisirmantel, mit blassem Gesicht und schlaff niederhängenden, nackten Armen, und das aufgelöste Haar wogte goldglitzernd um sie her. „Bist Du endlich gekommen, Vater?“ fragte sie vibrirenden Tones. Mit scheuer Haltung und niedergeschlagenen Augen blieb sie stehen – es sah aus, als sei ihr das Lampenlicht, das sie so plötzlich und grell überfluthete, unerträglich und sie habe den einzigen Wunsch, in das Dunkel zurückzuflüchten.

„Was – ist das der ganze Willkommgruß meiner Kleinen?“ rief Herr Lenz launig. „Weder Kuß noch Handschlag? – Und ich habe doch ein verlorenes Schäfchen mitgebracht! Siehst Du denn nichts? Wer sitzt denn dort auf dem Schoß der Mutter?“

Mit einem Ausruf der Ueberraschung fuhr das junge Mädchen empor und flog auf das Kind zu.

„Sieh, sieh!“ sagte Frau Lenz halb belustigt, aber doch auch ein wenig verletzt. „Vater könnte wohl eifersüchtig werden! Du hast Dich ja wirklich mehr um das fremde Kind geängstigt als um des Vaters Ausbleiben! ... Jetzt hilf mir aber, Deinen Liebling zu säubern und ins Trockene zu bringen. Dort im unteren Fach der Kommode müssen noch Röckchen und Strümpfe aus Deiner Kinderzeit liegen, die suche hervor!“

Sie setzte die Kleine auf das Sopha und holte Waschwasser und ein Handtuch herbei, während das junge Mädchen auf die Dielen niederkniete und mit fliegenden Händen den Inhalt des Schubfaches durch einander warf.

„Wo bist Du nur gewesen, Kindchen?“ sagte Frau Lenz beim Lösen der Schleifen und Knöpfe am Anzug des kleinen Mädchens – der Körper unter ihren Händen war in Schweiß gebadet.

„In Dambach war ich,“ stieß Margarete hervor. „Aber der Großpapa konnte mir nicht helfen, er war nicht da.“ – Und nun, während die Frau mit lauem Schwamm die beschmutzten Füßchen wusch, nun war es, als müsse alles Erduldete, das sich in die letzten Tagesstunden zusammengedrängt, von dem alterirten Kinderherzen herunter. In krankhafter Hast wurde Alles geschildert, die Schrecknisse im Teichgebüsch und die Angst, daß der Papa vom Pferde steigen und den Busch durchsuchen könne – und warum man zum Großpapa gelaufen sei? Nun, weil immer eine weiße Gestalt durch den dunklen Gang husche und die Leute erschrecke. Und die Stube sei nicht verschlossen gewesen, ganz gewiß nicht! Sie habe deutlich gehört, wie auf das Thürschloß gedrückt worden sei, dann habe sie es schneeweiß durch den Thürspalt schlüpfen sehen, und unter dem Schleier habe langes Haar herabgehangen; und weil das Mädchen so laut geschrieen, da wolle nun der Papa die Grete ins Institut stecken.

„Das ausgeprägteste Delirium! Die Kleine ist schwer krank,“ murmelte Herr Lenz mit abgewendetem Gesicht. „Beeilt Euch mit dem Umkleiden!“ Und er stahl sich leise hinaus, um Anzeige im Vorderhaus zu machen.

Die Röckchen und Kinderstrümpfe mußten sich in eine unauffindbare Ecke verirrt haben; denn die schöne Blanka kniete noch vor der Kommode und suchte. In ihrem weißen Gewand und mit dem langen, blonden, rücksichtslos über die Dielen geschleiften Haar sah sie aus wie eine zu Magddiensten erniedrigte Prinzessin. Nun wurde auch noch ein zweites Schubfach geräuschvoll aufgezogen.

Frau Lenz erhob sich ein wenig ungeduldig und trat hinzu. „Liebes Herz, das dauert mir zu lange, und ein solcher Kram, daß man Etwas nicht zu finden vermöchte, ist doch bei mir nicht Mode ... Wo hast Du denn Deine Augen, kleine Maus? Da liegt ja das blaue Flanellröckchen obenauf, hier in der Ecke stecken drei Paar Strümpfe, und da ist auch noch ein Nachthemdchen!“

Sie nahm die Sachen heraus und schob die Kasten zu.

Das junge Mädchen hatte keinen Grund mehr, in der halbdunklen Ecke zu verweilen, und als es sich zögernd dem Licht wieder zuwendete, da schien selbst aus den Lippen jeder färbende Blutstropfen gewichen zu sein.

„Kind, wie magst Du Dich nur so alteriren!“ rief die Mutter erschrocken. „Es ist nicht so schlimm, wie der Vater meint. Bei Kindern stellt sich sehr leicht starkes Fieber ein, vergeht aber auch schnell wieder. In einigen Tagen ist Dein Liebling wieder gesund – Du wirst es sehen! ... Hier, stecke die müden Beinchen in frische Strümpfe, während ich draußen einen kühlen Trank zurechtmache.“

Die Tochter rollte schweigend die Strümpfchen auseinander, kauerte vor dem Sofa nieder und schickte sich an, die kleinen, nackten Füße zu bekleiden; aber kaum war die Küchenthür hinter der Frau zugefallen, als sich das junge Mädchen mit einer leidenschaftlichen Geberde aufrichtete, das Kind mit beiden Armen umschlang und heftig an ihre Brust preßte.

Margarete öffnete die fieberglänzenden Augen weit vor Ueberraschung. „Ach, Sie haben mich lieb, Fräulein Lenz? Ja?“

Die schöne Blanka neigte bejahend den Kopf – im verhaltenen Schmerz klemmte sie die Unterlippe zwischen die Zähne, und eine Thräne stahl sich unter der gesenkten Wimper hervor.

„Es ist schön bei Ihnen in der kühlen Stube!“ murmelte die Kleine und drückte das Gesichtchen zärtlich in die blonde Haarfluth, die über die Brust des Mädchens fiel. „Ich möchte dableiben! ... Hierher kommt auch die Großmama nicht, niemals – die geht nie ins Packhaus – der Papa auch nicht. Aber Tante Sophie kommt ... Bringen Sie mich zu Bette!“

In diesem Augenblick trat die Mutter wieder in das Zimmer.

„Ach, und wie gut Sie riechen, Fräulein Lenz!“ rief das Kind lauter und hob tiefathmend den Kopf. „Wie die schönsten Rosen, gerade wie“ – ein Paar heißer, zuckender Lippen drückten sich fest auf den kleinen Mund und erstickten jedes weitere Wort.

„Aber, Blanka, das Kind ist ja noch barfuß!“ schalt Frau Lenz. „Und wer wird denn einen Patienten auch noch durch die eigene Angst aufregen! Geh’ nur weg, kleine Ungeschickte! Ich will das Anziehen selbst besorgen.“

In wenigen Minuten war sie mit dem Umkleiden fertig; Eile machte sich aber auch in der That nöthig; denn, wie schon im Kornfelde, so mischten sich jetzt wieder Fiebergebilde in die Vorstellungen des Kindes. Frau Lenz hielt ihm das hereingebrachte Trinkglas an die Lippen, und in gierigen Zügen wurde der heißersehnte Kühltrank geschlürft. Gleich nachher kamen Schritte die Treppe herauf, und Herr Lenz ließ die Tante Sophie eintreten.

Wer das humorbeseelte Gesicht der lustigen „alten Jungfer“ kannte, der mußte erschrecken, so furchtbar hatte es die Angst der letzten Stunden in Linien und Farben verändert. Mit einem stummen Gruß für die Hausfrau und das wieder in die dunkle

Ecke geflüchtete schöne Mädchen trat sie auf die kleine Margarete

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_074.jpg&oldid=- (Version vom 11.12.2019)