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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


das Licht in der hochgelegenen Thürmerstube des Wachtthurmes, welcher die Stadt beherrschte – er schwankte auch, als ob der alte Bursche, der vierschrötige Thurm zu tanzen anfange. Doch diese befremdende Erscheinung ging schnell wieder unter in dem einen vorwärtshetzenden Trieb: Weiter! Heim zu Tante Sophie!

Und im wispernden Kornfeld hörte sie Reinhold weinen, weil ihm „die wilde Grete“ seinen Thurm umgeworfen habe, und Bärbe murmelte in Einem fort von der Frau mit den Karfunkelsteinen im Haar und von dem wackelnden Vorhang in der verschlossenen Stube, und die rothen Klatschrosen, die das Kind heute wie Fackeln im Korn glühen gesehen, sie machten die enge dunkle Gasse heiß zum Ersticken; aber mit dem Niederlegen auf die kühle Erde war es doch nichts – weit drüben rief Tante Sophie immer wieder: „Vorwärts, Gretel! Mach’, daß Du heim kommst!“

So lief sie gehorsam weiter, zuletzt freilich mit einknickenden Knien und keuchender Brust, bis die Stadt erreicht war. In manchem Haus der letzten Gasse, durch die sie erschöpft schlich, brannte noch Licht, aber die Thüren waren geschlossen, und die matten Tritte des Kindes polterten förmlich auf dem hohlen Kanalbrückchen, eine so tiefe Nachtstille webte bereits in Gassen und Straßen. Und nun wölbte sich endlich der Thorbogen des Packhauses über dem kleinen Mädchen; nur war es schlimm, daß das schwere, altväterische Thürschloß im Thorflügel gar so hoch saß, eine Kinderhand konnte es nicht erreichen. Nach einer vergeblichen Anstrengung sank die Kleine auf dem niederen Prellsteine in sich zusammen. Sie meinte, die ganze Welt drehe sich mit ihr im Kreise, und vor dem Hämmern und Pochen ihrer Pulse könne sie nichts mehr hören; aber das Murmeln des vorbeischießenden Kanalwassers drang doch an ihr Ohr, und die Kühle, die es ausströmte, wirkte belebend auf ihr hindämmerndes Bewußtsein. Und jetzt kam auch Jemand die Straße daher; es waren kräftige Schritte, die sich dem Packhause näherten, und nach wenigen Minuten trat ein Mann unter den Thorbogen. So weit durchlichtete der sternfunkelnde Himmel die Nacht doch, daß man die Umrisse einer Gestalt zu erkennen vermochte – der Mann war Herr Lenz, der im Packhause wohnte und welchen die kleine Margarete gar gern hatte. Er warf ihr oft, wenn sie im Hofe spielte, im Vorübergehen ein heiteres Scherzwort hin, und für ihren freundlichen Gruß strich er mit liebkosender Hand über ihr Haar.

„Lassen Sie mich auch mit hinein!“ murmelte sie heiser, als er mit dem Hausschlüssel das Thor geöffnet hatte und im Begriff war, einzutreten.

Er fuhr herum. „Wer ist denn da?“

„Die Grete.“

„Was – das Kind aus dem Hause? – Um Gotteswillen, Kleine, wie kommst Du denn hierher?“

Sie antwortete nicht und griff nur mit tastender Hand nach seiner Rechten, die er ausstreckte, um ihr aufzuhelfen; aber das ging absolut nicht, und so nahm er sie ohne Weiteres auf den Arm und trug sie in die tiefe Thorwölbung hinein.

(Fortsetzung folgt.)




Trinkgewohnheiten der Völker.

Angesichts der häufigen Debatten in Parlamenten und Presse über die Alkoholfrage, sowie der Bestrebungen der Mäßigkeitsvereinler, Temperenzler und wie sie sonst heißen mögen, die dem übermäßigen Alkoholgenuß entgegentreten, ist gewiß eine Betrachtung der Trinkgewohnheiten der Völker, wie wir sie im Folgenden zu geben gedenken, am Platze und von Interesse.

Unter den skandinavischen Völkern haben die Norweger sich bis jetzt am meisten von den Gefahren und Lasten übermäßigen Alkohol-Genusses befreit. Sie verbrauchen nur den dritten Theil des in Schweden und den sechsten Theil des in Dänemark genossenen Schnapses, wenn sie dies zum Theil auch durch ein ziemlich starkes Bier, dem englischen Ale und Porter ähnlich, ausgleichen mögen.

Zwischen den Schweden und den Dänen – die sich daran gleichen, daß jene früher mehr Branntwein zu sich nahmen als irgend ein anderes Volk (fünfzig Liter durchschnittlich im Jahre auf den Kopf oder mehr) und diese gegenwärtig auf der Spitze dieser bedenklichen Leiter stehen (mit zwanzig Litern) – scheint der Unterschied obzuwalten, daß der Schwede sich immer noch etwas häufiger berauscht, der Däne aber im Ganzen mehr und beständiger trinkt. Dort herrscht der akute Alkoholismus vor, hier der nicht minder zu scheuende chronische. Es ist eine ähnliche Verschiedenheit, wie Max Nordan sie bei dem Pariser Arbeiter konstatirt im Vergleich mit dem englischen oder deutschen: betrunken sieht man ihn selten; aber da er den ganzen Tag, bei jeder Mahlzeit und auch ohne solche Entschuldigung ein Gläschen Absinth oder anderen „assommirenden“ (tödtenden) Likörs genießt, so hat er trotzdem mehr Anwartschaft auf das Krankenlager und frühzeitigen Tod infolge dieses Giftgenusses, als seine öfter berauschten fremden Standesgenossen.

Der Schweizer Statistiker Dr. Kummer nimmt in einer unlängst veröffentlichten großen Arbeit zur Alkohol-Frage an, daß „man in den Vereinigten Staaten nicht trinkt, um zu trinken, sondern um sich zu betrinken“, und glaubt, daß dies Verfahren auch in Großbritannien immer mehr Fortschritte mache, indem zur Verwirklichung des vorgesetzten Zweckes Massen geistiger Getränke, des Biers sogut wie des Branntweins, schnell und hastig hinuntergestürzt werden, sodaß deßwegen dort an die Stelle der Mäßigkeitsbestrebungen die Forderung gänzlicher Enthaltsamkeit habe treten müssen.

Lassen wir diese schwierige Frage hier unerörtert, so wissen wir doch aus den Schriften des berühmten amerikanischen Nervenarztes Dr. Beard, wie sehr die herrschende Nervosität, eine Frucht rastlosen civilisatorischen Fortschrittes und eines sich in Extremen bewegenden übertrockenen Klimas, zum Alkoholtrinken treibt und zum Immermehrtrinken zwingt, sobald man sich dem Reize dieses mächtigen Einflusses auf die Nervenstimmung einmal hingiebt. Aber auch eine dort eingerissene Sitte befördert das Unheil, nämlich das gegenseitige Traktiren. Selten treffen Amerikaner sich am Schenktisch, ohne daß der Eine des Anderen Getränke bezahlen will, worauf der Andere sich dann natürlich auch nicht lumpen läßt und so fort. Dieselbe schlimme Gewohnheit besteht unter den schwedischen Arbeitern. Kameraden trinken dort in der Schenke meist gemeinsam, und so, daß abwechselnd Jeder die Uebrigen freihält. Je mehr Werkgenossen Einer also hat, desto mehr muß er Tags über Trinken in desto größerer Gefahr ist er, betrunken und mit der Zeit ein Säufer zu werden. In Frankreich kommt diese Unsitte unter dem Namen Tournée neuerdings gleichfalls immer häufiger vor.

Es ist im Allgemeinen wenig bekannt, aber eine Thatsache, daß in Frankreich während des letzten halben Jahrhunderts das Schnapstrinken außerordentlich zugenommen hat, während es fast in allen übrigen Ländern ziemlich stehen blieb oder sich wie in Schweden und Norwegen namhaft verminderte. Von 21/4 Liter jährlichen Durchschnittsverbrauchs im Jahre 1830 war es im Jahre 1880 auf 71/4 Liter gestiegen und übertrifft jetzt England, wo doch kein Wein wächst, während Frankreich das weinreichste Land der Erde ist oder vor den Verwüstungen der Reblaus wenigstens war und unter den branntweintrinkenden Völkern auch wohl immer noch ist. Was über die eingerissenen Gewohnheiten durch Sittenschilderung oder einzelne Züge bekannt wird, macht diese leidige Konsumzunahme erklärlich. Im Jahre 1876, erzählt der schon angezogene Schweizer Bundesstatistiker, bildete sich in Paris ein Klub von Absinth–Trinkerinnen, die sich an ihren regelmäßigen Sitzungstagen jeder Nahrung enthielten und dafür möglichst viel Gläser dieses besonders verderblichen Schnapses hinuntergossen. Wer dem Gifte am besten widerstand, wurde für den Monat Klub-Präsidentin. Am 13. Februar 1873 griff die Polizei in einer öffentlichen Anlage von Paris ein vor Kälte erstarrtes Weib auf; als sie wieder zu sich kam, erklärte sie, 42 Glas reinen Absinths getrunken zu haben. Sie habe, sagte sie, kein Wasser zugesetzt, um das Aroma des Getränkes nicht einzubüßen. Ein ähnliches Motiv abgestumpfter Geschmacksnerven bewog wohl jene belgischen Erdarbeiter, von denen Dr. Barello auf einem internationalen Anti-Alkohol-Kongresse in Brüssel mittheilte, daß er sie in ihren Genever Schwefelsäure habe gießen sehen. Belgien gehört zu den wenigen Ländern, wo der Branntweinverbrauch

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_060.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)