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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)


Guckloch aus alles deutlich sehen und die einzelnen Gestalten unterscheiden konnte. Der Kapitän und der Schwarze waren unter ihnen.

Und wie ich das sah, kam es über mich wie eine Eingebung, und der Morgen, wie jener Mann da durchs Thor gekommen war, und Karsten’s ganzes Verhalten dabei standen auf das Lebhafteste vor mir. Ich wandte mich zu dem Alten um. Er stand einen Schritt zurück, den Kopf ein wenig vornübergebeugt, das Auge mit bohrendem Blick über meine Schulter hinaus auf das Schiff da drüben gerichtet, das Gesicht wie erstarrt. Ich trat zurück und ließ ihm den Blick frei.

„Leugne nicht, Karsten – vor denen da bist Du retirirt!“ sagte ich. „Du kennst das Schiff und seinen Kapitän.“

Er drehte langsam das Auge mir zu und wieder zurück, seine Züge blieben unverändert, nur war’s mir, als höre ich etwas wie einen knirschenden Laut, und endlich grollte es dumpf hervor:

„Ob ich ihn kenne, und den Schuft von Nigger dazu.“

Sein Auge kehrte wieder langsam zu mir zurück und er sprach, jetzt wirklich knirschend. „Ja, vor ihnen bin ich retirirt oder, wie Du sagst, habe ich mich verkrochen! Aber Gott verdamme mich! nicht aus Angst! Ich bin hier auf Wache, Junge, und die Stunde kommt, und ich fasse ihn!“

Mir wurde unheimlich zu Muth, denn was sich hier vor mir erhob, ging über alles Gefürchtete weit hinaus – solche Vorstellungen und Pläne in dem kranken Kopf da ließen, wenn man nicht rasch vorbeugte, das Schlimmste nicht unmöglich erscheinen, denn einmal im Gang, wich Karsten Lehr vor nichts mehr zurück. Ich mußte mehr wissen, und vor allem, wie viel Theil etwa trotz alledem der Rum an diesem Ausbruch hatte, und ich machte es, wie vorhin, indem ich möglichst kaltblütig sagte. „Wozu der Lärm, Karsten, oder hast Du zu viel getrunken?“

Er fuhr jählings auf.

„So, meinst Du? Der da und der schwarze Hund haben mir den Kleinen gestohlen und das Glück dazu! Aber jetzt hab’ ich ihn und mein Auge hält ihn, und –“ Er wandte sich auf dem Absatz um und zum Tisch, goß den Rest aus der Flasche ins Glas und stürzte es aus. „Schließe den Schieber, Junge, oder ich breche schon jetzt aus!“

Ich wußte nicht, was ich sagen, nicht was ich thun sollte, denn die Situation wurde immer unheimlicher, und während mein Bleiben allem Anscheine nach kaum etwas nützen konnte, schien es mir durchaus unthunlich, ihn gegenwärtig auch nur so lange allein zu lassen, daß ich mich mit dem Wirth hätte verständigen können.

„Karsten,“ sagte ich so kaltblütig wie nur möglich, „es ist doch, wie ich vorhin sagte: Du hast zu viel getrunken, denn Du könntest sonst unmöglich so tolles Zeug schwatzen. Was ist das für ein Unsinn mit dem ‚Kleinen‘, der Dir gestohlen sein soll? Du hast nie ein Kind an Bord gehabt!“

Er fuhr auf, faßte sich augenscheinlich sogleich wieder und erwiderte mit einer Art von Ungeduld: „Verstelle Dich nicht, Junge! Du weißt gut genug, was ich meine.“

„Nein,“ versetzte ich, „das weiß ich nicht.“

„Du wüßtest nicht, was der ‚Kleine‘ für ein Ding ist und für Unsereinen bedeutet?“ fragte er, finster mich anblickend.

„Nein,“ sagte ich nochmals, aber es durchzuckte mich eine Ahnung von Aberglauben, auf den ich hier stieß, den ich jedoch am allerwenigsten in dem Alten gesucht hätte. Denn mochte Karsten im Uebrigen sein, wie er wollte – ein Träumer oder Grübler war er nie, vielmehr ein kluger und nüchterner Kopf und in allen – sage ich: übersinnlichen Dingen der richtige Freigeist. Ich sah ihn fest an. „Redest Du am Ende gar von dem lieben Herrn Klabautermann?“

Sein Auge traf finster das meine. „Leugne das Blaue vom Himmel herunter, es hilft Dir nichts. Was ist, das ist!“ sagte er dumpf. „Hättest Du’s nur einmal erlebt – Du glaubtest wie ich! Sieh, ich lachte auch darüber,“ redete er ebenso weiter, „aber an Bord des Holländers lernte ich’s verstehen und schwor mir zu, wo ich noch einmal mit meinem eigenen Schiff segle, thue ich’s nicht ohne den Kleinen. Nun –“ er strich mit der Hand über die gefaltete Stirn und das düstere Auge – „ich kam nach Hause, damals, Junge, als ich das schlechte Weibsbild austrieb, und ließ die Bark auflegen. Da brachte ich’s in Gang. Ich wußte aus meiner Jungenzeit von einer Eiche im Galower Forst, bei der es umgehen sollte, weil an ihrer Wurzel ein neugeborenes und ungetauftes Kind verscharrt war. Solche Seelchen gehen in den Baum über und mit dessen Holz in das Schiff und bleiben diesem treu, so lange noch ein Stück des Baumes drinsteckt. So besorgte ich’s, und da der Baum schlecht war und wenig nutzbares Holz bot, so ließ ich wenigstens ein Stück einfügen an einem gut verborgenen und wohl versicherten Platze.“

Als er hier schwieg, sprach ich auch nichts. Ich beobachtete ihn voll ernsten und schweren Nachdenkens, wie er zuerst ganz versunken saß, dann den Kopf fast lauschend erhob, mit seinem Auge vorsichtig zu mir und voll Haß und Grimm zu dem kleinen Schieber hinüberstreifte – was war aus diesem Kopf geworden, und was kann aus einem Kopf werden! Mich fröstelte. Und ich horchte ins Haus hinein, ob sich nicht vielleicht etwas von dem Wirth oder seiner Frau hören lasse. Nein – nichts, ich mußte mir selber helfen!

„Karsten, Du alter Seebär, das hätte ich von Dir nie im Leben geglaubt!“

Er schaute düster, aber dennoch mit einem, ich möchte sagen: sehenden und gegenwärtigen Blick, wie befreit von seinen Phantasien, zu mir auf. „Ja, lache mich nur aus, Junge! Hab’ es selber gethan und mich grausam verhöhnt, und war drauf und dran mich loszumachen! Aber es ging nicht – er war da: ich hörte ihn, ja, Junge, ich sah ihn auch, und die Jungen glaubten so fest an ihn, wie ich selbst. Lustigere Fahrten giebt’s nicht, als damals die unseren in den ersten zwei Jahren, und eine lustigere und fixere Mannschaft findest Du an keinem Bord. Es glückte uns Alles, kein Sturm und keine See schädigten uns. Man durfte das Tollste wagen.

Da stießen wir einmal auf ein treibendes Boot und fanden in ihm unter den verwesenden Leichen noch zwei Lebende, die aber gleichfalls schon so weit herunter waren, daß sie die Todten nicht mehr hatten über Bord werfen können – das waren die Beiden da,“ unterbrach er sich mit einer Art von Knirschen. „Damals nannte er sich aber Jack Morris. – Sie waren vor vier Wochen von Rio abgesegelt, hatten Schiffbruch gelitten und waren, so viele sich ihrer in das Boot salvirt hatten, mit diesem herumgetrieben, bis alle außer den zweien verschmachteten. So sagten sie. Wir aber hatten unsere eigenen Gedanken. Es trieben sich damals ein paar Kreuzer auf jener Höhe herum, mit denen Niemand gern zu thun hatte. Die Engländer waren scharf hinter ihnen her und machten, wo sie einen trafen, kurzen Prozeß. So war’s, wie wir kürzlich von einem Amerikaner gehört hatten, vor vierzehn Tagen einem von ihnen ergangen, das Schiff verbrannt, von der Mannschaft nichts Lebendes mehr an Bord. Daran dachten wir und sahen uns die Beiden darauf an, kümmern aber that’s uns weiter nicht. Wir hatten sie ’mal und fütterten sie heraus, bis sie wieder Menschen waren. Jack Morris machte sich währenddeß an mich und brachte es dahin, daß wir gut Freund wurden, Kompagnie machten und Jahr und Tag mit einander segelten.

Nun, Junge, davon ist nicht weiter zu reden,“ sprach er weiter, aber noch immer in dem bisherigen, verhältnißmäßig ruhigen Tone. „Es war eine Zeit der Tollheiten, und Du weißt, Junge, zu dergleichen und wo es was zu wagen giebt, war mir immer leicht gepfiffen. Meine Jungen waren auch keine Duckmäuser, sondern hatten einen guten Spaß und hübschen Verdienst gern, und dazu half Morris uns stets von Neuem, und das Glück blieb uns allerwärts treu. Die spanischen Zöllner waren blind und taub, oder wurden, wo sich’s doch ’mal so traf, abgeklopft, daß es eine Freude war. Und so ging’s fort, bis ich einmal wieder an Land mußte. Das kam zu Zeiten, neuer Geschäfte wegen, vor und wurde stets von mir selber oder durch meinen Steuermann besorgt, da wir dem Morris neuerdings nicht mehr recht trauten: es waren ein paarmal kuriose Dinge vorgekommen. – Und als ich jetzt am dritten Abend spät an Bord zurückkehrte, war er mit dem Schwarzen auf und davon. Er hatte, wie mir der Steuermann sagte, der krank darniederlag, die Leute von mir abwendig zu machen gesucht und war, da er böse Worte zu hören bekam, Abends zuvor ans Land gegangen – mit dem höhnischen Wunsch, daß ‚der Kleine‘ uns treu bleiben möge.“

Karsten saß zusammengesunken und starrte düster vor sich hin. Aber nach ein paar Augenblicken hob er den Kopf auf,

that einen tiefen Athemzug und redete – es war etwas Grollendes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 31. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_031.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2018)