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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885)

Sophistik auf, die Frauen von ihrer „Gleichberechtigung“ mit den Männern zu überzeugen und ihnen den „Begriff der freien Liebe“ beizubringen.

Die später, in den 70ger Jahren, in Russland selbst oder von der Fremde her kundgewordenen Anpassungen der russischen Revolutionspartei haben dann die durch Tschernyschewski ins anarchische Nichts eröffneten und gebahnten Wege breitgetreten. Nur daß sich mit der Heftigkeit der gegen die Revoluzer angestrengten Verfolgung auch die Rücksichtslosigkeit ihrer Sprache steigerte. Der anständige Ton eines Herzen war jetzt pöbeligem Geschrei gewichen, die gemessene Oppositionsrede gemeinem Wuthgezeter. Was Tschernyschewski nur geflüstert hatte, wurde jetzt brutal hergebrüllt. So in den im Auslande gedruckten Zeitschriften „Vorwärts“ (Wperòd), die „Sturmglocke“ (Nabat) und die „Volksjustiz“ (Narodnaja Rasprawa). In diesen und anderen Erzeugnissen der nihilistischen Presse lief am Ende aller Enden alles auf den blindwüthigen Zorn- und Racheschrei hinaus: „Putscht! Mordet! Schießt!“



Walküre den Krieger in den Kampf führend.
Nach der Marmorstatue von Bruno Kruse.


3.

Alles Wahrheitgefühls müßte ledig sein, wer da leugnen wollte, daß sothane Literatur furchtbare moralische Verheerungen in der russischen Gesellschaft angerichtet, vorzugsweise in den Kreisen der sogenannten „Gebildeten“ männlichen und weiblichen Geschlechts häufig allen Sinn für Recht, Sitte, Pflicht und Schicklichkeit spurlos vertilgt und an die Stelle einer wohlberechtigten Sehnsucht nach Umgestaltung des Staatslebens einen wilden Fanatismus des Hasses und der Zerstörungslust gesetzt habe.

Anderseits darf aber auch nicht übersehen oder geleugnet werden, daß die Verzweiflung warmblütiger rassischer Patrioten an dem Gelingen des zarischen Reformwerkes, ja an der Aufrichtigkeit der Reformabsichten des Hofes und des „Tschin“, nur allzu begreiflich war. Daß der Zar eben auch nicht allmächtig sei, daß die gegebenen Verhältnisse nicht selten die besten Tendenzen desselben scheitern machten, dies zu erwägen nahm sich die einmal entfachte revolutionäre Leidenschaft keine Zeit. Sodann mußte es den Groll der Revoluzer immer wieder wecken und mehren, wenn sie tagtäglich Gelegenheit erhielten, mitanzusehen, wie die Regierung, während dieselbe theoretisch in die Wege des Rechtsstaates einzulenken suchte, in ihrer Praxis die alte Willkürstraße weiterwandelte. Dafür zeugten ja ganz augenscheinlich die fortwährenden „Verschickungen“ nach Sibirien von polizeiwegen. Die berüchtigte „dritte Abtheilung von Sr. Majestät eigener Kanzlei“, d. h. das Hauptwerkzeug des unverantwortlichen Willkürregiments, wurde erst im August von 1880 aufgehoben und auch dann nur scheinbar.

An fortschwärenden Ursachen, die Revolutionsidee in vielen, in sehr vielen Köpfen zu einer fixen zu machen, war demnach kein Mangel. Man muß aber, so man gerecht sein will, noch mehr sagen. Dieses nämlich, daß dem Nihilismns, sowie er aus der Theorie in die Praxis hinübertrat, trotz alledem und alledem eine gewisse Großheit zuerkannt werden darf – die Größe der Aufopferungsfähigkeit, einer nicht selten an’s Wunderbare gränzenden Aufopferungsfähigkeit. Wo aber diese, da brennt immer eine Flamme, welche vom Besten, was im Menschen, genährt wird. Sie brannte auch, dagegen kann kein Zweifel aufkommen, in vielen Nihilisten, sowie in dieser oder jener Nihilistin. Die Mehrzahl der Partei allerdings mochte aus von Haus aus verkommenen Subjekten bestehen, angefault, bevor sie reif geworden. Andere, und zwar nicht wenige, machten den Nihilismus gedankenlos mit, weil ja derselbe, so zu sagen, in die Mode gekommen war. Wieder andere aus purer Eitelkeit und Wichtigthuerei. Aber es gab auch Helden und Heldinnen des Nihilismus, welche, aus echtem Enthusiasmus auf die schiefe Ebene desselben gerathen und nach Erduldung unsäglicher Drangsale schließlich dem Untergang verfallen, dem rascheren Tode am Galgen oder dem langsameren in der sibirischen Bergwerksnacht mit nicht weniger Standhaftigkeit entgegengingen, als mit welcher vordem christliche Märtyrer in römischen Arenen und protestantische Opfer spanischer Autos de Fé glorreich gestorben waren. Wie diese, so lebten und starben auch sie für ihre „Idee“.

Hier jedoch endet die Aehnlichkeit. Denn die christlichen und die ketzerischen Märtyrer hatten ihre Ueberzeugung und Begeisterung nicht in den Dienst des Verbrechens gestellt und starben mit reinen Händen. Für die Nihilisten und Nihilistinnen dagegen, auch für die besten, existirte das Sittengesetz nicht mehr. Der Unterschied von gut und bös war ihnen ein Spott und in ungeheurem Dünkel wähnten sie sich erhaben über alles, was heilig ist unter Menschen. So wurden sie Fälscher, Diebe, Einbrecher, Mörder. Zuletzt schlug ihr Fanatismus zu einem auf Massenmord gerichteten Zerstörungsdelirium aus, welches man mit dem altnordischen „Berserkergang“ oder mit dem malayischen „Mordlauf“ vergleichen könnte, falls nicht so viel kaltblütige Berechnung damit verbunden gewesen wäre.

(Schluß folgt in nächster Nummer.)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1885). Leipzig: Ernst Keil, 1885, Seite 28. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1885)_028.jpg&oldid=- (Version vom 13.3.2024)