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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

in Erstaunen setzen, wenn noch genug Leute existiren, welche Hexenproben in Deutschland und in den Niederlanden miterlebt haben. Im Jahre 1823 ging durch alle Zeitungen die Nachricht, daß zu Delten in Geldern eine Frau von mittleren Jahren, welche in den Verdacht der Hexerei gekommen war, sich selber erboten habe, ihre Unschuld durch die Wasserprobe zu beweisen; daß diese Probe wirklich am hellen Mittag vor den Augen der herbeiströmenden Zuschauer in dem nahen Fahrwasser vorgenommen worden und zu ihren Gunsten ausgefallen sei. – Der glückliche Ausgang macht diesen Fall zum Possenspiel. Von fürchterlichem Ernst aber war ein anderer, der sich dreizehn Jahre später auf der Halbinsel Hela bei Danzig ereignete. Ein Mann des kassubischen Dorfes Ceynowa erkrankte an der Wassersucht, und ein Wunderdoctor bezeichnete dem versammelten Dorf eine einundfünfzigjährige Wittwe, Mutter von fünf unmündigen Kindern, als die Hexe, die ihn krank gemacht habe. Um sie zu zwingen, dem Verzauberten zu helfen, schlug und trat er die arme Frau in der erbarmungslosesten Weise; ebenso schlug sie der Kranke, an dessen Bett sie geführt wurde, mit einem Stocke blutig. Dann ruderten die Fischer und der Wunderdoctor zweimal mit ihr in’s Meer hinaus, banden ihr die Hände und warfen sie aus dem Boote. Beim zweiten Male zogen sie die Mißhandelte so lange im Wasser nach, bis sie ertrank. Die näheren Umstände lauten so grauenhaft roh, daß man einen Bericht aus den Ländern der Kannibalen zu lesen glaubt. Und das geschah im preußischen Staat im August des Jahres 1836!

Von den bisher genannten Hexenordalen waren die Nadelprobe und die Wasserprobe die häufigsten. Viel seltener war die letzte, welche noch zu nennen ist, die Probe der Hexenwage.

Ein förmliches Gottesgericht der Wage, wobei das Gewicht des Menschen über seine Schuld oder Unschuld entscheiden soll, finden wir sonst nur in Indien. Zwar kommt es in der ältesten Rechtsquelle, dem Gesetzbuche des Manu, noch nicht vor; das kennt nur den Reinigungseid, die Feuerprobe und die Wasserprobe. Aber in der späteren Fünfzahl und der noch späteren Neunzahl der indischen Gottesurtheile steht das der Wage obenan. Es war vorgeschrieben für Brahmanen, Frauen, Kinder, Greise, Kranke, Blinde und Lahme. Der Angeklagte fastete einen Tag, badete dann in heiligem Wasser, opferte im Feuer und verehrte die Götter. Dann wurde er in einer vorschriftsmäßig gebauten Wage zweimal gewogen, und wog er beim zweiten Male weniger als beim ersten, so war er unschuldig. Das entscheidende zweite Wiegen geschah mit großer Feierlichkeit. Die Wage wurde mit Fahnen und Kränzen geschmückt. Opfer wurden beim Schall der Instrumente den Göttern dargebracht. Der Richter stellte den mit dem Wiegen beantragten Männern vor, daß, wenn sie nicht ehrlich dabei zu Werke gingen, ihnen im Jenseits diejenigen Strafen zu Theil würden, die den Mörder eines Brahmanen und den falschen Zeugen erwarten. Darauf wurde dem Angeklagten ein Blatt um den Kopf gebunden, auf dem die gegen ihn gerichtete Anklage geschrieben stand zugleich mit dem Spruche: „Sonne und Mond, Wind, Feuer, Himmel, Erde, Wasser, das Herz und Yama (der Todtenrichter), Tag und Nacht, beide Dämmerungen und Dharma (der Gott des Rechts) kennen des Menschen Wandel.“ Dann sprach der Richter oder der Angeklagte selbst ein Gebet an die Wage wie folgendes: „Du, o Wage, bist der Sitz der Wahrheit. Du wurdest vor Alters von den Göttern erfunden. Bring die Wahrheit an den Tag, du Geberin des Glücks, und reinige mich von allem Verdacht! Wenn ich schuldig bin, o du gleich meiner Mutter Verehrungswürdige, dann laß mich niedersinken! Bin ich aber schuldlos, so hebe mich in die Höhe!“ – Ueber den Fall, daß beim zweiten Wiegen das Gewicht sich gleich bleibe, waren die Gesetzgeber getheilter Meinung: nach dem eineh war dies ein Zeichen der Schuld wie das schwerere Gewicht; nach dem andern war es ein Zeichen geringerer Schuld; nach dem dritten sollte die Probe wiederholt werden.

Wie wir noch heute bildlich von einer Last der Schuld sprechen, so sollte also hier die von einem göttlichen Geist beseelte Wage symbolisch andeuten, ob diese Last auf dem Angeklagten liege oder nicht. Eine ganz andere Vorstellung lag dem Glauben an die Hexenwage zu Grunde. Schon bei der Wasserprobe haben wir gesehen, daß den Zauberern ein geringeres specifisches Gewicht beigelegt wurde, als anderen Menschen. Sie mußten also überhaupt ihrem absoluten Gewichte nach leichter sein als andere von gleicher Leibesbeschaffenheit. Wie bei der Wasserprobe derjenige schuldig war, der oben schwamm, so wurde durch das Urtheil der Wage derjenige als schuldig erwiesen, der weniger wog, als er nach seinem Aussehen geschätzt wurde.

Im Jahre 1728 wurde zu Szegedin in Ungarn nach dortigem Gebrauche an einer Anzahl Personen beiderlei Geschlechts, die der Hexerei beschuldigt waren, außer der Wasserprobe auch die Probe mit der Wage vorgenommen. Dabei, so sagt ein gleichzeitiger Bericht, habe sich das Wunder ergeben, daß ein großes dickes Weib nicht mehr als anderthalb Loth, ihr Mann, welcher auch nicht von den kleinsten war, nur fünf Quentchen, die übrigen aber entweder ein Loth oder drei Quentchen oder noch weniger gewogen haben. Sie wurden sämmtlich lebendig verbrannt.

Wenn nicht, wie hier, offenbarer böswilligster Betrug mitunterlief, so mußte dieses Gottesurtheil stets zu Gunsten des Beschuldigten ausfallen. War man doch in Friesland schon zufrieden, wenn der Gewogene über elf Pfund schwer war. Im Jahre 1707 wog der Pöbel bei Bedford in England ein verschrieenes Weib gegen die zwölfpfündige Kirchenbibel ab, und da es sich schwerer als diese erwies, wurde es frei.

Die berühmteste Hexenwage befand sich in der holländischen Stadt Oudewater an der Yssel. Die Bürger beriefen sich auf ein von Kaiser Karl V. ihnen verliehenes Privilegium, wornach die der Zauberei Beschuldigten auf ihrer Stadtwage sollten gewogen werden, und wenn sich dabei ergäbe, daß das Gewicht der gewogenen Person mit der natürlichen Beschaffenheit ihres Körpers übereinstimmte, so sollte das bei allen Gerichten des heiligen römischen Reichs Glauben finden und jede andere Probe ausgeschlossen sein. Wann und wo der Kaiser dieses Privilegium erteilte, ist unbekannt; weder das Original noch eine Abschrift der Urkunde ist erhalten. Im Jahre 1575, als die Spanier die Stadt erstürmten und die Einwohner niedermachten, ging das Stadthaus mit allen Pergamenten und Papieren in Flammen auf. Ueber die Veranlassung dieses Privilegs gab es verschiedene Meinungen. Nach der einen hörte der Kaiser in einem benachbarten Dorfe, daß dort Jemand wegen Zauberei verbrannt werden sollte, weil sein Gewicht zu gering befunden worden sei. Der Kaiser verlangte Bericht über den Verlauf des Processes, und da er sah, daß der Schulz und der Pastor in ungehöriger Weise vorgegangen waren, verfügte er, daß der Beschuldigte zu Oudewater gewogen werden solle, weil dort das Troy-Gewicht (das nach der Stadt Troyes benannte französische Handelsgewicht) gebraucht werde. Nach einer andern Ueberlieferung hatte der Kaiser vernommen, daß in der Stadt Oudewater nie ein Mensch als Zauberer verbrannt worden sei, weil man da die Uebung habe, die Beschuldigten zu wiegen, statt sie wie anderwärts der Wasser- und Nadelprobe zu unterwerfen. Darauf soll der Kaiser unter Gutheißung einer so verständigen und menschenfreundlichen Maßregel die Stadt mit jenem Privilegium begabt haben.

Und menschenfreundlich in der That war diese Anordnung, die den Aberglauben mit seinen eigenen Waffen bekämpfte; sie hat viele vor der Folterbank und dem Scheiterhaufen bewahrt. Denn welche Bewandtniß es auch mit dem Privilegium haben mochte, thatsächlich genoß die Stadtwage von Oudewater fern und nah das allgemeinste Vertrauen, und Leute, die in ihrer Heimath in den Verdacht der Hexerei kamen, wurden von ihren Gerichten hingeschickt, um sich wiegen zu lassen und ein Attest darüber heimzubringen. Besonders zahlreiche Kundschaft kam aus den Bisthümern Köln, Münster und Paderborn. Ein Augenzeuge aus den Jahren 1645-1648 erzählt von einem jungen Mann aus Paderborn, der in solcher Angst hinkam, daß er eher einem Todten als einem Lebenden glich; als er aber die Probe glücklich bestanden, sprang er vor Freuden auf und rief: „Das heißt Leben und Gut gewonnen!“

Das Wiegen geschah vor einer besonderen Commission, welche aus zwei Schöffen und dem Stadtschreiber bestand. Die Person mußte sich bis aufs Hemd entkleiden und wurde untersucht, ob sie nicht irgend einen Gegenstand, der sie schwerer machen sollte, bei sich trage. Bei Männern nahm der Gerichtsbote, bei Frauen die Stadthebamme diese Untersuchung vor. Frauen mußten ihre

Haare aufgelöst über die Schultern fallen lassen. Der geschworene

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 859. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_859.jpg&oldid=- (Version vom 29.10.2018)