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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 52.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Am Abgrund.
Von W. Heimburg.
(Schluß.)


Während die Mutter nach dem Kirchhofe wandelte, war die alte Großmutter aus der Löwenapotheke ein wenig in unser Gewölbe getreten und hielt meiner Schwester verwaistes Kindchen auf dem Arme. ‚Na, Hans,‘ – sie duzte mich noch von der Kinderzeit her, wo sie mir manchen Apfel geschenkt – ‚wie schaut’s denn aus? Guck, wird Dir der Junge nicht der Emilie immer ähnlicher?‘ Und sie setzte das rosige Geschöpfchen auf den Ladentisch und schüttelte die Klapper vor ihm, um ihn zu beschäftigen. ‚Da hat ihn die Minna vorhin beinah erdrückt vor Liebe; – na, sie wird’s ja auch erleben, so ein Mäuschen in den Arm zu nehmen. Kinderlieb ist sie, Hans, und eine gute Frau wird sie auch werden; und die Hauptsache, – sie weiß Dir hier mächtig Bescheid im Geschäft, und so Eine muß auch herein.‘

Ich hatte anfänglich garnicht auf sie gehört, weil ich das Kind betrachtet. Jetzt fuhr ich empor, der Sinn ihrer Worte traf mich wie ein Schlangenbiß.

‚Na, Hans, Du brauchst nicht so heimlich zu thun, das weiß die ganze Stadt, und die Mutter wird Dir’s längst gesagt haben, daß es ihr liebster Wunsch ist. Mein Gott, sie wird alt, und was sie erlebte zuletzt, hat sie arg mitgenommen, und – –‘

Sie hielt inne, denn draußen spazierte eine Gevatterin vorüber. Eilig nahm sie den kleinen Buben empor und schlürfte über die Schwelle. – Wie eine Unholdin kam sie mir vor, die auf dem Besen zum Schornstein hereingefahren, ein armes Menschenkind zu martern. Ich schlug plötzlich den Deckel des Pultes zu, daß es schallte und der Lehrling mit großen erschreckten Augen und offenem Munde in die Thüre trat. An ihm vorüber aber schritt ich hinaus in mächtiger Erregung. Das war zuviel! – Ich riß den Strohhut vom Haken und stürmte aus dem Alteburger Thor, dem Walde zu, daß die Frühlingsspaziergänger verwundert stehen blieben und mehr als ein halblautes: ‚Der ist wohl verrückt!‘ mir nachklang.

Und wie ich weiter drang durch Tann und Gestrüpp, ward ich allmählich ruhiger, aber ein düsterer Grimm quoll dafür in meiner Brust empor; und wie ich hoch oben auf der Schönauer Leite stand und weit hinausschaute in den herrlichen Frühlingsabend, – da kam zu diesem Grimm die Sehnsucht nach der verlorenen Herrlichkeit, nach meiner schönen goldenen Freiheit, nach allem, was mein Herze erquickt und begeistert hatte; und wie ein dunkles elendes Gefängniß erschien mir das Vaterhaus, in das ich mich selbst festgeschmiedet voll kindischer Begeisterung. – Ja, da lag es, ich kannte es wohl an dem hohen spitzen Dach, so recht inmitten dieser engen kleinen Stadt, in der Menschen wohnten mit engen Herzen und mit engem Gesichtskreis, und ich ballte die Faust und schüttelte sie und knirschte mit den Zähnen. – Weit, weit in der Ferne, da verschwamm mein Glück wie das Abendroth, mein stolzes Glück, und nimmer war es wieder zu erreichen, ohne wortbrüchig zu werden an der eignen Mutter!

Vielleicht ist sie großmüthig, wenn ich sie bitte, auf den Knieen bitte, mir die Freiheit zurückzugeben, mich hinaus zu lassen nach meiner Wahl?

Großmüthig? O, sie mußte es ja längst, längst gesehen haben, wie ich kämpfte mit mir. – Nein, großmüthig ist nur der, der Anderer Leiden nachfühlen kann: sie verstand nichts von dem, was mich bewegte; sie glaubte mich zu retten von meinem wilden unglücklichen Leben, wenn sie mich in das solide Geschäftshaus einsperrte; mit der Zeit verlernt ja auch der Vogel das Fliegen – im Käfig! Und wenn sie nun noch ein hausbacken Weib in meine Arme stieß, die allstündlich dafür sorgte, daß ihr Eheherr nicht über den Strang schlage, – dann, dann konnte ich ja noch vernünftig werden, konnte es ja noch endlich soweit kommen, daß ich im Schlafrock und mit der Pfeife kannegießernd den Abendschoppen in der ‚Sonne‘ trank und mich mit gutem Appetit zur Nachtsuppe setzte, weil ich ein paar Ellen Zeug verkauft hatte, ohne etwas herunterhandeln zu lassen.

Als verfolgten mich die Furien, so stürzte ich weiter, planlos, ziellos; erst als wieder Menschen an mir vorüberschritten, merkte ich, daß ich, den Strohhut in der Hand, mit zerwühltem Haar daher kam. Dann sagte ich mir, mich emporraffend: ‚Ich werde mit der Mutter reden.‘

Sie sei soeben heim gekommen, berichtete das Dienstmädchen im Flur, und nach oben gegangen. Ich stieg die Treppe empor und rief auf dem dämmrigen Vorsaal ‚Mutter! Mutter!‘

Da öffnete sie die Thür ihrer Schlafstube. ‚Hier bin ich, Hans!‘ Das klang so weich. ‚Komm herein!‘ Und nun stand ich ihr gegenüber. Sie hatte geweint, wie immer, wenn sie von den Gräbern kam, und sie hatte eben ein paar blaue Vergißmeinnicht, die sie von dort gebracht, in ein Glas gethan und

sie unter das Bild des seligen Vaters auf die Kommode gestellt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 849. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_849.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)