Seite:Die Gartenlaube (1884) 843.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

plötzlich inne und starrten mit offenen Mäulchen das fremde, schöne Kind an. Die Aelteste, Grethe, stieß den neben ihr stehenden Hans heimlich an und flüsterte: „Das Christkindchen!“ Dem feinen Ohr Mariechens war diese Bemerkung nicht entgangen, die Kleine hüpfte mit beiden Füßchen von der hohen Schwelle hinab in’s Zimmer und lachte die Kinder aus: „Ach, ich bin ja gar nicht das Christkindchen, ich heiße Marie, und das Christkindchen heißt doch nicht Marie!“ „Sie hat Recht, Grethe, das Christkind ist längst wieder im Himmel, es hat uns ja auch schon bescheert. Komm, Mariechen, setze dich einmal auf mein Schaukelpferd, ich lasse dich reiten!“ meinte großmüthig Hans, und das kleine Lieschen, ein Jahr älter als Marie, zupfte diese am Aermel und hielt ihr das Wickelkind hin, das die Augen bewegen und Mama schreien konnte und zwei kleine Zähnchen hatte. Mariechen war von all den Herrlichkeiten so hingenommen, daß sie gar nicht mehr an die Mama dachte, die an der offenen Thür lehnte und mit zärtlichem Blick jeder Bewegung des lieblichen Kindes folgte. –

Da trat zu einer anderen Thür die hohe Gestalt des Pfarrers herein. Er begrüßte erstaunt, aber freundlich die Fremde und führte sie in das Nebenzimmer. Dann fragte er nach den Wünschen der Dame, die sich ihm als Frau Elisabeth von Wehren aus D. vorstellte.

Sie begann: „Ich habe nur eine Frage an Sie, Herr Pfarrer, aber diese ist so schwer, daß mir fast der Muth fehlt, sie Ihnen vorzutragen. Nur der Gedanke, daß heute Weihnachten ist, das Fest der Liebe, läßt mich Muth fassen, zu sprechen. Könnten Sie sich entschließen, einem bald elternlosen Kinde eine Heimath in Ihrem Haus zu bieten für die Zeit seines Lebens?“

Ihre Stimme bebte, sie faßte mit ihren schlanken Händen die Rechte des Pfarrers, der nachdenkend vor sich hinsah.

„Ihre Frage überrascht mich,“ begann er nach einer kurzen Pause, indessen, wenn die Verhältnisse es gestatten – ich habe selbst eine große Familie – wenn meine Frau damit einverstanden ist, so möchte ich gern Ihren Wunsch erfüllen,“ sagte er.

„Haben Sie Dank, innigen Dank, edler Mann! Ich wußte es ja, daß Sie meine Bitte erfüllen würden. Ich kenne Sie aus früheren Jahren, Sie sind mir kein Fremder, und ich zweifelte nicht, dass mein kleiner Liebling in Ihrem Hause eine Heimath finden würde! Die kleine kommt auch nicht mit leeren Händen, ihr ziemlich bedeutendes Vermögen ist auf der Bank in H. deponirt, die Zinsen reichen hin, ihr eine gute Erziehung zu Theil werden zu lassen.“

Die Reden der jungen Frau wurden durch häufiges Husten unterbrochen, und auf den sonst aschfahlen Wangen begannen dunkle Fieberrosen aufzublühen.

Aus allen Häusern, an welchen die Postchaise vorbeihumpelte, strahlte der Lichterbaum.

„Sie werden vielleicht fragen,“ begann sie von Neuem, warum ich mein Kind nicht selbst behalte? Lassen Sie mich Ihnen kurz die Geschichte meines Lebens erzählen. Ich war die glückliche Gattin eines braven Mannes, den ich aber gegen den Willen meiner Eltern geheirathet hatte. Er war arm, und meine reichen Eltern hatten eine sogenannte gute Partie für mich im Auge. Aber ich konnte nicht von meinem Geliebten lassen. Das urewige Lied von der Liebe Freud und Leid ist auch in mein Leben geklungen. Ich verließ die Eltern, wir flohen aus der Heimath, und hier, in diesem kleinen Städtchen, wurden wir getraut.“ Sie ergriff die Hände des Geistlichen und fuhr mit bewegter Stimme fort: „Dieselben Hände, die nun mein Kind treu durch’s Leben führen wollen, sie haben damals unseren Ehebund geschlossen. Entsinnen Sie sich noch der abendlichen Trauung? Damals war die Braut jung und glücklich, kein Wunder, wenn Sie mich nicht wieder erkannten.

Wir zogen nach Amerika, nach einigen Jahren starb mein Mann an einem bösen Fieber, dem Hunderte zum Opfer fielen. Ich pflegte ihn, bis er die Augen schloß. Aber die namenlose Anstrengung und Aufregung, der nagende Schmerz um den Verlust des Theuren hat meine ohnehin nicht starke Gesundheit untergraben. Die Aerzte drüben sagten mir, auf meine inständige Bitte um Wahrheit, daß ich nur noch wenige Monate zu leben hätte. Nun aber hatte ich noch eine schwere Pflicht zu erfüllen, mein Kind zu versorgen. Ich habe Niemand auf der Welt, als eine alte, entfernte Verwandte hier im Städtchen, meine Eltern sind todt. Da erinnerte ich mich Ihrer und eilte hierher zu Ihnen. Nicht wahr, Sie rauben einer dem Tode nahen Mutter nicht den letzten Trost, sondern lassen mich mit der Gewißheit scheiden, daß mein Kind in Ihrem Hause eine Heimath gefunden hat?“

„Ich entsinne mich Ihrer jetzt wieder,“ sagte der Pfarrer weich, „aber freilich, damals waren Sie eine glückliche, jugend frische Braut –“

„Von der nur noch ein fahler Schatten geblieben ist,“ vollendete sie, „sorgen Sie aber nicht um mich, ich bleibe die wenigen, gezählten Tage meines Lebens bei meiner alten Verwandten, ich weiß ja mein Kind in der Nähe, und bald werden Sie mir ein Plätzchen anweisen, in dem ich für lange Zeit Ruhe haben werde!“

Der Pfarrer sprach ihr Muth zu, sie aber schüttelte nur traurig und unter Thränen den Kopf.

„Lassen Sie mich jetzt gehen, ich will mein Kind, das unter den Ihren bereits heimisch geworden ist, nicht noch einmal sehen, der Abschied würde mich tödten!“ Sie übergab dem Pfarrer ein Schriftenpaket und einen Brief mit den Worten: „Wenn meine Tochter zwanzig Jahre alt ist, soll sie ihre wahre Herkunft erfahren, ich möchte, daß mein Kind noch einst an meinem Grabe betet. Der Brief enthält alles, was Marie wissen soll. O, der Gedanke ist so schwer, sein Liebstes hingeben zu müssen, aber es muß sein, seien Sie ihr ein gütiger Vater!“ Sie erhob sich zum Gehen.

„Aber wollen Sie so allein in die Stadt zurück?“ frug der Pfarrer, „das dulde ich nicht, ich werde Sie begleiten.“

Frau von Wehren wollte ablehnen, er aber hüllte sich in seinen Mantel, reichte ihr den Arm und führte sie hinaus. Noch einen schmerzlichen Blick warf sie nach den erleuchteten Fenstern, hinter denen der Weihnachtsbaum glänzte, dann schritt sie durch die dunkelnden Gassen stumm neben dem Geistlichen her.

Wenige Tage nach Anbruch des neuen Jahres hielt der Pfarrer eine tiefergreifende Rede am Grabe einer jungen, fremden Frau, am Grabe von Mariechens Mutter. – –

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_843.jpg&oldid=- (Version vom 1.12.2022)