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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Ich weiß nicht, wie ich den Marktberg hinaufkam und in die Hausthür; sie stand weit geöffnet, als habe man eben Jemand hinausgetragen. Einen Augenblick lehnte ich wie erschöpft in dem stillen Flur am Treppengeländer, dann schwankte ich vorwärts, der Ladenstube zu. Mit leisem Kreischen ging die Thür auf, die ersten Sonnenstrahlen lugten durch die weißen Vorhänge und erfüllten den trauten Raum, aber lautlos stille war es innen, die Uhr stand, das Vogelbauer war leer, und nun wußte ich es – die Mutter war nicht mehr!

So einsam, so öde hatte ich es mir vorgestellt, wenn sie einst todt – aber nimmer so schrecklich, so mit wahnsinniger Angst und Reue die Seele packend. Wie ein verlorener Sohn, wie ein Verbrecher, dem die Pforten des Paradieses verschlossen sind auf ewig, so stand ich in dem verlassenen Raum.

‚Jahre meines Lebens gäbe ich, Alles, Alles, woran mein Herz gehangen, träte sie nur noch einmal in ihrer raschen Art durch die Thür dort,‘ stöhnte ich, ‚giebt es denn keine Barmherzigkeit im Himmel?‘

Da ging leise die Tapetenthür gegenüber, und da kam es herein, eine alte gebeugte Frau im Trauerkleide, die Haare, ehedem so braun, nun gebleicht von Herzeleid und Kummer.

‚Hans!‘ sagte sie leise.

‚Mutter!‘ schrie ich auf, ‚Du lebst, Du lebst?!‘

Und ich lag zu ihren Füßen und drückte ihre Hände an meine weinenden Augen.

‚Ich lebe,‘ sprach sie, ‚ich, die Alte, und die Jungen sind dahin – Alle, Alle!‘ Und nach einer Weile: ‚Du, mein Einziger noch!‘

‚Laß es gut sein, Mutter,‘ schluchzte ich, ‚laß mich Alles gut machen, laß mich bei Dir bleiben!‘ Und so im jähen Ueberschwang des Schmerzes und der Reue warf ich Alles hin, was mir des Lebens Lust und Wonne gewesen, in dem Wahne, ich habe eine schwere Schuld zu sühnen, die Schuld, daß Gott mir ein ander Temperament gegeben, als es die Mutter gemeint.

Als es Abend geworden, brachte sie mir das Hauptbuch des Geschäftes und ein Bund Schlüssel: ‚Gott segne Dich und Deinen Entschluß, Du mein Trost in der Verlassenheit!‘ Und aus den Thränen, die um den Sohn in ihren Augen standen, den ihr die verflossene Nacht geraubt, schimmerte ein Glücksstrahl über den verloren Geglaubten, den ihr der Morgen gebracht.“


Der alte Mann schwieg. Ich fühlte wohl, jetzt sei er im Begriff von dem zu reden, was ihn einstmals an den Rand jenes dunklen Abgrundes getrieben. Er saß, als habe er die Gegenwart vergessen. Der Mond war allmählich hinter den Bäumen emporgestiegen und streute seine silbernen Funken über den Garten aus; im Fliederstrauch hub eine Nachtigall an.

Er fuhr aufhorchend empor, strich sich das Haar aus der Stirn und griff zum Glase.

„Vom Hörsaal der Philosophie bis hinter den Ladentisch der ‚Goldenen Elle‘,“ begann er, „ein wunderlicher Weg, gethan unter der zwingenden Gewalt eines uralten heiligen Naturgesetzes; aber so rasch war ich diesen Weg gelaufen, in so kopfloser Eile, daß ich am Ziele ermattet zusammenbrach; doch, wer überlegt in der Angst, in der Erregung –?

Die kommende Zeit lebt in meiner Erinnerung verworren, unklar und dennoch so furchtbar lebendig!

Anfänglich stand ich noch völlig unter dem Banne der erschütternden Ereignisse, der herben Verluste; die opferwillige Liebe zu der schon verloren geglaubten Mutter schlug himmelhohe Wellen, und sie, sie lag schier anbetend vor ihrem ‚Einzigen‘ auf den Knieen. Wie oft am Tage kam sie, legte ihr graues Haupt an meine Schulter und sagte weinend: ‚Mein Einziger! Mein Sonnenschein!‘ – Mit welcher Todesangst sorgte sie sich um meine Gesundheit, mit welchem Aufwand von Festigkeit erzwang ich es, bei ihr bleiben zu dürfen in der verpesteten Stadt!

Daß ich heimgekommen, das Geschäft zu übernehmen, fand Jedermann natürlich; wer hätte es sonst thun sollen? Das alte schöne Geschäft, das für rentabler galt als ein Rittergut, würde man doch nicht verkommen lassen! Niemand redete mich darauf an, Keinem erschien es wie ein Opfer; im Gegentheil, es gab allerhand Leute, die da meinten, der leichtsinnige Studiosus habe doch mehr Glück als Verstand, denn es wäre schwerlich etwas aus ihm geworden auf der Universität, und heimlich habe die Mutter schon das Geld abgezählt in der Schublade liegen gehabt, um mich je eher je lieber nach Amerika zu spediren.

Mit den ersten Herbstfrösten erlosch die schreckliche Krankheit; der Bann, der auf allen Gemüthern lag, wich, Jedermann athmete auf – nur ich nicht. Bisher hatte ich in einem wunderlichen drückenden Halbtraum dahin vegetirt, aber plötzlich ward ich völlig wach: bin ich denn wahnsinnig gewesen an jenem entsetzlichen Morgen? Ein schrecklicher Tag, an dem ich diese Frage an mich selbst richtete. – Es war um Martini herum und in unserem Geschäfte drängten sich die Bauerweiber vom Lande, um die warmen Wintersachen einzuhandeln, ein Tag, der geschäftlich obenan stand bei uns. Draußen wirbelten die Schneeflocken über dem bunten Treiben des Marktplatzes, vom Thurme blies der Stadtmusikant einen Gassenhauer im Walzertact; es war ein Feilschen, Lachen, Schreien um mich herum, und ein Duft von Zwiebeln, nassen Kleidern und Tabak, der mich körperlich fast elend machte, erfüllte den Raum, und über Alles hinweg ertönte die Stimme der Mutter, nach Allem fragend, zuredend, angreifend, wie es das Geschäft verlangt.

,Sie sind krank, Hans‘, sagte eine Mädchenstimme hinter mir, ‚gehen Sie, ich werde der Mutter helfen.‘ Und meines Bruders hinterlassene Braut schob mich fürsichtig, als sei ich eine Puppe, zur Seite, und ein Paar blaue, von hellen kurzen Wimpern umrahmte Augen sahen mich mit zärtlich besorgtem Ausdruck an.

Ich ging. Ich ging immer, wenn sie kam und sie kam oft. Es war ein instinctiver Widerwille, den ich gegen dieses robuste grobfadige Mädchen hatte. Sie trampelte einher wie ein Percheron, und Nerven schien sie zu haben wie Seilerstricke; schon allein ihr derbes Lachen konnte mich zur Empörung bringen, und sie lachte oft in der letzten Zeit. Das Einzige, was ihr Ehre machte – sie hatte es längst heraus gefühlt, mit welchem Widerwillen ich in dem Laden thätig war, und sie erbot sich gern zur Ablösung, wie sie denn überhaupt Alles that, womit sie glaubte mir angenehm zu sein.

Die Mutter hielt große Stücke auf sie, das Minnachen war eine ‚so schneidige‘ Person. Ich hatte oft des Abends, vor einem Buche sitzend, mit halbem Ohre wie aus weiter Ferne eine Lobrede über sie angehört –. Nun, heute kam sie mir recht! – Ich trank in der Ladenstube ein Glas Wein, den die Mutter sorglich immer für mich bereit hielt, und stellte mich an das offne Fenster. –

‚Hans,‘ flüsterte da wieder die Mädchenstimme hinter mir, ,Hans, heut in aller Frühe ist die Fürstin zurückgekommen und auch der Herr Magister, von dem Sie soviel halten; ich sah es, als ich zum Backhause ging mit den Martinskuchen; – ich meine, es interessirt Sie?‘

Ich fuhr herum. Ohne ein Wort zu sagen, langte ich die Mütze von der Wand, schritt aus dem Hause und durch das Marktgewühl in die Zimmerstraße. Wie ich den Flur betrat, packte mich ein wunderliches Gefühl, etwas wie Scham, und dennoch ein altes seliges Erinnern; als ich aber drinnen stand in dem trauten Gemach, in dem nur leise die Uhr tickte und die Büsten Homer’s und Sokrates’ so still gemahnend auf mich herabschauten; als ich wieder das milde Antlitz sah und die Stimme des alten Mannes hörte, der mir in griechischer Sprache entgegenrief: ‚Sei mir gegrüßt, mein Sohn!‘ da war es, als schüttelte es mich, und eine innere Stimme schrie: ‚Bist Du denn wahnsinnig gewesen an jenem Morgen?‘

Er wußte von nichts. Er erkundigte sich nach meinem Studium und wie es komme, daß ich daheim. Und warum ich so lange nicht geschrieben? Und ich stand noch immer vor ihm, in stummer Verzweiflung:

‚Ich habe umgesattelt,‘ sagte ich, mich mühsam zu einem leichten Tone zwingend – ‚ich bin Kaufmann geworden.‘

Er sah mich schmerzlich an.

‚Der Bruder ist todt,‘ fügte ich hinzu, ‚und die Mutter schafft es nicht allein –.‘

Er antwortete noch immer nicht. ‚Hans, mein Junge,‘ nahm er endlich das Wort, ‚Ehre Deinem Entschluß, – Du wirst es wohl erwogen haben und – mögest Du Dich glücklich fühlen!‘

Mir schoß plötzlich das Wasser in die Augen – ich konnte nicht mehr bei ihm bleiben, ich hätte sonst geweint wie ein Schulbube.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_839.jpg&oldid=- (Version vom 27.12.2022)