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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

daß heute mein Herz für Sie empfindet, wie in unserer schönen Jugendzeit, und mein Mund Sie wie damals mit dem Freundesnamen grüßt!“

Nach diesen Worten umarmte er Bouilly, und Gräfin Blanche reichte ihrem Retter mit dankenden Worten die Hand.

Noch an demselben Tage verließ das junge, der Freiheit und dem Leben wiedergegebene Paar in einfach ländlicher Kleidung und in Begleitung des alten treuen Gratien die Wohnung des neugewonnenen Freundes und die Stadt. Diesmal hatten sie keinen störenden Aufenthalt an dem Thore, denn Zeit und Menschen hatten sich bereits merklich geändert, und der Beamte der Republik geleitete sie, um die Freunde in ihre neue Heimath einzuführen. –

Das Revolutions-Tribunal zu Tours wurde von den neuen Machthabern aufgehoben, und Bouilly ward seiner Stelle als öffentlicher Ankläger ledig. Bald darauf kehrte er nach Paris zurück, das er von nun an nicht mehr verlassen sollte.


In Paris nahm Bouilly seine schriftstellerische Thätigkeit wieder auf, die sich mit besonderer Vorliebe, und von einem seltenen Erfolge gekrönt, der Operndichtung zuwendete. Er hatte Viel erlebt und an Stoffen fehlte es ihm nicht. So wurde er durch das nicht gewöhnliche Darstellungstalent der ersten Sängerin des Theaters Feydeau, der schönen Madame Scio, angeregt, die hochdramatische Situation, der er im Gefängnisse der Abtei zu Tours beigewohnt hatte, als Blanche von Semblancay das Leben ihres Gatten gegen den Unmenschen Carrier mit einem bewunderungswürdigen Heldenmuthe vertheidigte, dramatisch zu verwerthen. Doch mußte er dazu Zeit, Ort und Namen ändern – es wäre unmöglich, zu gefährlich und auch zu undelicat gewesen, anders zu verfahren. Er schrieb ein Opernbuch, das er „Léonore, ou l’amour conjugal, fait historique en deux actes“ (Leonore, oder die eheliche Liebe, eine historische Begebenheit, in zwei Acten) benannte, dessen Handlung in Spanien und vor etwa hundert Jahren spielte. (Erst später änderte Bouilly diese Bezeichnung und sagte „Fait historique espagnol“.) Gaveaux, der erste Tenor des Theaters Feydeau, zugleich fruchtbarer Operncomponist, setzte das Buch in Musik, und am 19. Februar 1798 wurde die Oper unter obigem Titel in dem genannten Theater zum ersten Male aufgeführt. Der Erfolg war für das Buch ein ganz bedeutender, für die Musik ein weniger guter, und deshalb hielt sich die Oper nicht lange auf dem Repertoire. Auch fand diesmal nur das Buch den Weg über die Grenze nach Deutschland. Zuerst componirte es hier der Italiener Paër, damals Capellmeister der italienischen Hofoper in Dresden, dann gelangte es in die Hände Beethoven’s, dem es Gelegenheit bot, sein Meisterwerk „Fidelio“ zu schaffen, das 1805, bei seiner ersten Aufführung verkannt, bei Seite gelegt – 1814 mit größerem Glücke, weil besser verstanden, wieder aufgenommen – erst 1822, durch die hinreißende Wiedergabe der Titelrolle durch die achtzehnjährige geniale Wilhelmine Schröder (bald darauf Schröder-Devrient) sich den bewundernden Zeitgenossen in seiner ganzen Größe, seinem vollen Glanze offenbarte, das als eines der größten musikalisch-dramatischen Meisterwerke gelten wird, so lange die Menschen Freude empfinden an dem wahren Schönen in der Kunst.


Wie ich Schriftstellerin wurde.

Vielleicht lag mir dieser Beruf im Blute. Seit Generationen ist in den Familien, denen ich entstamme, mit Tinte und Feder hantirt worden, hauptsächlich – da meine sämmtlichen Angehörigen Juristen und Theologen waren und sind – zu wissenschaftlichen Zwecken. Die Vorfahren meiner Mutter haben manches Buch in die Welt hinaus gehen lassen, und mein Vater war eine leichtbeschwingte poetische Natur; er bedurfte nichts als einer guten Cigarre, um die hübschesten Gelegenheitsgedichte aus dem Aermel zu schütteln.

Auf dem welligen Landstriche, der zwischen Thüringer Wald und Harz sich hinzieht, sind wir zu Hause. Meines Vaters Heimath war die kleine Residenzstadt Sondershausen, und er besaß den heitern Geist und den ganzen schlagfertigen Witz, der den Bewohnern dieser Stadt eigen ist; meine Mutter ist eine echte Tochter Arnstadts, mit ernstem Sinn, starker Arbeitskraft und gern spinnender Phantasie begabt. In Sondershausen bin ich als einziges Kind meiner Eltern geboren und immer wieder nach kurzen Abwesenheiten dahin zurückgekehrt.

Umgeben von Büchern wuchs ich auf. Vor der Polyglotte, deren neun Sprachen der gelehrte Großvater meiner Mutter kundig gewesen war, und vor dem Corpus juris in meines Vaters Bücherschrank wurde mir frühzeitig Ehrfurcht eingeflößt. Aber ich durfte mich an den Darstellungen im alten Evangelienbüchlein erfreuen, in welchem Satanas vierbeinig und gehörnt Unkraut unter den Weizen säete, und es wurde mehr gelacht als gestraft, als ich das Werk des alten Hexenrichters Carpzow zum Schlitten degradirt hatte, indem ich einen Strick um seinen dicken Leib band. Von meinem Spielzeug war mir das liebste ein großes Theater mit vielen prächtig geputzten Puppen vom Kaiser im Purpurmantel bis zum Bauern in Hemdärmeln.

Ich lief noch in meinen ersten feuerrothen Schuhen umher, als mein Vater zum Einzelrichter im Amt Keula ernannt wurde, das hoch über dem Eichsfeld liegt. Wir wohnten dort in einem altersgrauen burgartigen Gebäude mit riesigen Steinkaminen und hohen Thürschwellen, über die ich mit Vergnügen Turnkünste übte. Zu Johanni durfte ich mit den gutgearteten Bauernkindern unter der Dorflinde im Reigen springen, bei welchen fröhlichen Gelegenheiten ich den Dialect des Ortes mit Virtuosität sprechen lernte. Wie heimelte es mich nach Jahren an, als ich bei der Lectüre unserer mittelalterlichen Literatur im „Spiel von den zehn Jungfrauen“, das im 14. Jahrhundert in Eisenach aufgeführt worden ist, die „Brut“ und den „Brüt’gm“ statt Braut und Bräutigam wieder fand.

Eine Versetzung meines Vaters führte uns aus dem winkeligen Gebäu in das ehemalige fürstliche Jagdschloß von Ebeleben, das jetzt die Amtswohnung enthält. Dort habe ich während der Sommerzeit im altfranzösischen Garten Verstecken gespielt zwischen steif geschnittenen Hecken, in verfallenen Grotten und hinter steinernen Hirschen, Hunden und bezopften Jägern. Im Winter aber lernte ich das Gruseln; denn an einem bestimmten Decembertage sollte es in einem Saale, der einen dunklen Flecken am Fußboden trug, nicht geheuer sein, und männiglich war es bekannt, daß dort einer fürwitzigen Scheuerfrau der Strohwisch von unsichtbarer Hand eine Glockenstunde lang festgehalten worden war.

Ein günstiges Geschick fügte es, daß, als die Schulzeit für mich anbrach, mein Vater wieder nach Sondershausen zurückversetzt wurde, wo sich gute Lehranstalten befinden. Ich zeichnete mich zuerst durch Zerstreutheit, mangelhafte Rechenkünste und Tintenklekse aus; aber mit der Zeit arbeitete sich ein Talent für deutsche Aufsätze und den Vortrag schwungvoller Gedichte durch.

Zur Bereicherung meiner Phantasie trugen die öfteren Besuche bei meinem Großvater mütterlicherseits viel bei. Er war nach Eisenach als Vicepräsident an das dortige Appellationsgericht versetzt worden in der Zeit, zu welcher der Professor von Ritgen die Wartburg ausbaute, Moritz von Schwind sie mit seinen herrlichen Fresken schmückte. Noch heute webt ein poetischer Zauber um die Erinnerung an die Mondscheinabende, an denen wir in der Burg weilten. Die geistvolle Schwester meiner Mutter, die auch einen Roman veröffentlicht hat, aber früh verstorben ist, erzählte dann alle die Sagen und Historien, deren Schauplatz die alte Veste war, und in den Rundbogenfenstern des Landgrafenhauses, wo dereinst im Wettgesang zur kleinen Harfe Wolfram von Eschenbach, Heinrich von Ofterdingen und Klingsor stritten, saßen junge Künstler, ließen die thüringer Cither schwirren und sangen schwermüthige Volkslieder.

In diese schöne bunte Welt brachte meine Mutter den festen Halt. Schon in jener Zeit, in welcher die Frauenfrage noch nicht eine brennende geworden war, sprach sie den Grundsatz aus, daß auch ein Mädchen einen bestimmten Beruf haben müsse, um das Leben würdig auszufüllen. Mit dem Augenblicke, da ich confirmirt wurde, wußte ich, daß ich mir einen Wirkungskreis zu schaffen habe. Nur war mir noch unklar, welches Ziel ich mir erwählen sollte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 828. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_828.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2022)