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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Das Urbild des Fidelio.

Erzählung von Ernst Pasqué.
(Schluß.)


Die Gefangenen zu Tours hatten in ihrem ruinenhaften und doch so festen Gefängniß eine traurige Nacht verbracht. Durch die ebenso kluge wie grausame Vorsorge Le Borgne’s war es ihnen nicht einmal möglich gewesen, sich der Sacristei zu nähern, um dem Grafen ein Zeichen zu geben. Geduldig mußten sie harren, bis die Stunde der Befreiung, die vielleicht die ihres Todes sein konnte, kommen würde. Doch die Zeit verging, der neue Tag drang in den wüsten Raum, und noch immer regte sich nichts, weder vor der Kirchenpforte noch in dem weiten Hofe. Stunde um Stunde schwand in gleicher beängstigender Stille dahin; der Mittag nahte heran, ohne daß Jemand sich zeigte, ihnen nur einen Trunk Wasser, ein Stückchen Brod zu bringen. Man mußte sie vergessen haben – oder sollte man sie absichtlich hier allein lassen wollen, um sie dem Tod des Verschmachtens preiszugeben? Solchen Befürchtungen verlieh Pujol Worte, dann faßte Margot, oder Blanche von Semblancay, wie wir sie jetzt nennen müssen, mit fester Hand nach ihrem von dem weiten Brusttuche bedeckten Mieder, als ob sie dort eine Waffe berge, die im Stande wäre, sie vor einem solchen qualvollen Ende zu bewahren und für immer mit dem geliebten, dem sichern Tode geweihten Gatten zu vereinigen. Doch jäh und zusammenfahrend ließ sie wieder von selchem frevlen Denken ab, und den Blick zu inniger Bitte nach oben gerichtet, faltete sie die Hände zum Gebet. Sie hoffte!

Mittag mußte schon eine ganze Weile, weit über eine Stunde, vorüber sein, da wurde es plötzlich in dem Gefängnißhof lebendig. Das große Thor schien lärmend weit aufgerissen zu werden, denn zwei dumpfschallende Schläge drangen bis in den Kirchenraum, dann näherten Stimmen sich rasch und hörbar dessen Eingang. Das alte Schloß knarrte, nun wurde ein Riegel nach dem andern aufgezogen und endlich öffneten sich auch beide Flügel der Pforte des entwürdigten Gotteshauses in ganzer Weite. Eine fanatische Menge drang in die Kirche ein, an ihrer Spitze zwei Personen, welche eher geradeswegs der Hölle entstiegen zu sein schienen, so abstoßend dünkten sie den hinter ihrem Eisengitter ihnen erschrocken entgegenschauenden drei Gefangenen. Carrier war es und sein Begleiter Le Borgne, die nach scharfem Ritt in Tours angelangt waren und sofort den Weg nach der Abtei eingeschlagen hatten, ohne sich um das zu kümmern, was hinter ihnen dreinzog und ihnen immer näher und näher rückte.

Auf der Schwelle des zerstörten Kircheninnern schrak sogar Carrier, dessen Auge und Herz sich doch an den furchtbarsten menschlichen Jammer gewöhnt haben mußte, sichtlich zusammen und zögerte weiter zu schreiten, so wüst und ekel erschien ihm das Chaos von Trümmern und Unrath, welche sein Auge zu streifen, sein Fuß zu betreten sich scheute. So drängten denn auch die sansculottischen Wächter des Gefängnisses und der Pöbel nicht weiter nach, sondern blieben draußen, den Eingang füllend, stehen, in Erwartung der Dinge, die da kommen mußten. Le Borgne, der den Weg nach dem Chor und der Sacristei einschlagen wollte, hemmte den Schritt und schaute Carrier fragend an. Dieser hatte eine erhöhtere Stelle seitwärts der Kirchenpforte erreicht und herrschte nun seinem Führer in gewohnter barscher Weise zu:

„Führe mir die Gefangenen her, hier will ich sie verhören und richten, und schnell soll es gethan sein!“

Sein Auge funkelte bei diesen Worten in schreckerregender Weise, und die Hand umkrallte den Griff seines langen Cavallerie-Säbels, den er wie ungeduldig in der metallenen Scheide lockerte, daß das scharfe klirrende Geräusch des Eisens unheimlich die Stille der weiten Hallen durchtönte. Le Borgne war nach der Sacristei geeilt, in seiner grimmen Freude mit seinen langen Beinen eilfertig die Trümmerhaufen überspringend, und als er nach kurzer Pause mit dem Grafen wieder zum Vorschein kam, da fuhr Carrier’s Gestalt hoch auf, und beide Hände auf die in ihren Riemen lenksame Waffe gestützt, schaute er mit seinen finsteren Blicken dem Gefangenen entgegen, als ob er nicht allein dessen Richter, sondern auch sein Henker wäre.

Ohne Furcht, aber mit unverhohlenem Abscheu, trat Graf René dem Manne näher, dessen Namen Le Borgne ihm genannt, mit Absicht genannt, und von dessen entsetzlichen Thaten er in seinem Versteck nur zu oft Kunde erhalten hatte. Als er vor ihm stand, eilte Le Borgne in gleicher Hast wie früher davon, die drei übrigen Gefangenen herbei zu holen.

Einige Augenblicke schauten die beiden Männer einander an, und vor dem flammenden Blick des Gefangenen mußte Carrier sein Auge senken, wodurch der Haß und Zorn in seinem Innern nur gesteigert werden konnte. Dann schüttelte die ganze Gestalt sich wie in heftigem Unwillen und in seiner frechen Weise fragte er:

„Du bist also der ci-devant Graf von Semblancay, der bei Le Mans unter dem Schurken, dem Fuhrknecht Cathelineau, gegen die wackeren Soldaten der Republik kämpfte?“

„Ich bin Graf René von Semblancay,“ entgegnete René mit einer stolzen Ruhe, als ob er die Beschimpfungen des Andern nicht vernommen hätte oder ihnen nur mit Verachtung begegnete. „Zugleich bin ich Capitain in dem Heere Sr. Majestät unseres allergnädigsten Königs Ludwig XVII., das unter Führung seines edlen Commandanten Cathelineau für Thron und Altar kämpft und jederzeit bereit ist, freudig das Leben für die königliche Sache zu opfern.“

„Das wagst Du mir zu sagen?“ schrie Carrier auf, zitternd vor Zorn und das fahle Gesicht nun mit einer flammenden Röthe bedeckt, „hast dies Alles natürlich auch Deinen Richtern gesagt und trägst trotzdem nach drei Tagen Deinen Kopf immer noch auf dem Rumpfe?!“

„Ich habe Jedem frei und offen also geantwortet, der mich darum befragte, wie es sich für einen Mann von Ehre geziemt, und ich würde keinen Augenblick anstehen, Deinen Obern, den tausendfachen Mördern und ihrem fluchwürdigen Haupt Robespierre, in gleicher Weise zu antworten.“

„Du Schuft!“ schrie Carrier sinnlos vor Wuth auf, und zugleich fuhr sein Säbel klirrend aus der Scheide.

„Stünde mir eine Waffe zu Gebot, so würde ich den Elenden, der ein solches Wort mir gegenüber wagte, passend zu züchtigen wissen,“ lautete die mit Hoheit gegebene Antwort des Grafen.

Da hob sich der Arm Carrier’s mit der blinkenden Waffe, zugleich wollte er mit einem Sprung sich auf den unbeweglich vor ihm stehenden Grafen stürzen, als er plötzlich mit einem grellen Wuthschrei innehielt und wie vor Schreck erstarrt stehen blieb. Denn Unerwartetes war mit der Schnelligkeit eines Blitzes geschehen.

Aus der längst von Le Borgne herbeigeführten Gruppe der anderen Gefangenen hatte sich Blanche gelöst und war auf den Grafen zugeflogen, den Bedrohten mit ihrem Leibe deckend. Während sie den Gatten mit dem linken Arm heftig umschlang, war die Rechte unter dem Tuch des Mieders mit einer dort verborgen gehaltenen Pistole wieder zum Vorschein gekommen, deren Mündung sie auf Carrier richtete, in demselben Augenblick, als dieser in seiner Wuth den Arm zum tödlichen Streiche auf den Grafen erhoben hatte. Zugleich rief sie mit einer Stimme, die wie der Ruf eines richtenden Erzengels in hellem ergreifenden Klang die Kirchenhalle durchtönte:

„Zurück, Unmensch! oder Du bist des Todes!“

Carrier wankte – sein Fuß strauchelte und mit dem einen Knie sank er zu Boden; sein Gesicht war erdfahl geworden, die Mündung der todbringenden Waffe sah er immerfort und unbeweglich auf sich gerichtet – den Arm mit dem Säbel hatte er vollends sinken lassen.

Ein Staunen, mit Erschrecken gepaart, hatte sich Aller bemächtigt, die Zeuge dieser Scene gewesen; der Athem eines Jeden schien zu stocken, keiner einer Bewegung fähig zu sein, bis auf die rohen Sansculotten, die draußen standen und ihre tiefe Ergriffenheit nicht zu verbergen vermochten. Selbst Graf René, der sein theures Weib, dessen Liebe und Heldenmuth so Hohes für ihn gewagt, ihm das Leben gerettet hatte, in seinen Armen wußte, selbst er vermochte im ersten Augenblick nicht einmal den Namen Blanche auszurufen.

Da durchtönte die ergreifende Stille, und die Spannung des Augenblicks lösend, eine fremde Stimme, die mit Ruhe, doch auch mit einer überlegenen Ironie sagte:

„Ei, ei, Bürger Carrier! Du liegst vor einer Aristokratin auf den Knieen? – und deshalb bist Du mir heute früh –

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 826. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_826.jpg&oldid=- (Version vom 11.10.2022)