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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Es beginnt etwas unheimlich zu werden in der Oede des Albaycin. Selbst der Reiz poetischer Romantik, eigenartiger, wilder Schönheit fehlt. Die Weiber tragen nicht einen Zug von der Anmuth, der sinnlichen Feinheit, der bezaubernden Elasticität der Andalusierinnen an sich, nicht eine Spur von dem Geschick, selbst in ihre Lumpen sich noch malerisch und wirksam zu hüllen. Gedrungen von Gestalt, starkknochig, mit wulstigen Gesichtern, struppigen Haaren, verblühen sie schnell in Armuth und Elend. Nur unter den Mädchen, die kaum dem Kindesalter entwachsen, trifft man gelegentlich natürlichen Liebreiz in arger Verwilderung. Ein Wollenrock, unten meist mit Streifen von anderem Stoffe besetzt, ein Tuch, um die Achseln geschlungen und hinten geknüpft, auch wohl ein Hemde, bilden ihre einzige Kleidung. Die stammt von irgend einer Städterin; geschenkt, gekauft, gestohlen? das läßt sich schwer ergründen. Eine bestimmte Volkstracht giebt es schon längst unter den Gitanos nicht mehr. Selbst der Hang nach Putz, gleißendem Flitter, farbigen Bändern scheint völlig erstorben zu sein. Eine Blume von der nächsten Hecke, eine Rose, Granate, Fliedertraube stecken sie wohl in das wirre Haar, mehr niemals. Lüstern nach Geld und Besitz, verschwenden sie das Erhaltene meist in Leckereien, in billigem Zuckerwerk, kaufen süßes Eis, kleine in Oel gebackene Kuchen von den Straßenhändlern unten in der Stadt, auch wohl einen wohlschmeckenden Schnaps; Wein niemals. Die Männer lungern den Tag über hinter den Cactushecken, sie vertreiben sich höchstens die Zeit mit dem Flechten von Basttaschen oder Körben, warten auch wohl auf Gelegenheit zu mühelosem Erwerb. Wollte man nach ihrem Aeußeren, ihren Geberden, ihren wüsten Blicken urtheilen, so müßte man sie alle für Strolche halten. In der Stadt wird der Fremde gewarnt, allein in der Oede des Albaycin umherzustreifen. Man hält das für eine geschäftliche Finte, um Führerlohn zu gewinnen, ist man aber mitten unter diese Bevölkerung gerathen, so sieht die Sache doch etwas bedenklich aus. Allein man hört nichts von Anfällen oder schweren Verbrechen. Die Zigeuner des Albaycin mögen wohl keine schlimmen Leute, keine Raubgesellen sein, höchstens einmal eine Börse, ein Taschentuch entwenden. Immer aber werden sie aus der Verlegenheit eines irrenden Wanderers Vortheil zu ziehen suchen. Daß sie bei aller Lässigkeit ein verschmitztes und gieriges Volk sind, sagt ihr Antlitz. So war es denn durchaus nicht gemüthlich hier trotz Sierra Nevada und Alhambra, die verlockend im Abendsonnenscheine dalagen. Die Zudringlichkeit der Gitanos wurde immer lästiger. Die Umgebung der Hütte war, wohl kaum absichtlich, aber doch thatsächlich, rings umstellt, umlagert. Man sollte unter das räucherige Dach treten, einen Tanz mit ansehen, Gesang und Spiel hören. Es war schwierig, sich den Liebesmühen des Bettelvolkes zu entziehen.

Die Höhlenwohnungen der Zigeuner in Granada.
Originalzeichnung von Fritz Bergen.

Da, im richtigen Augenblicke, sah ich die kleine Karawane meines amerikanischen Freundes den Berg hinanziehen. Die Zigeunergesellschaft lugte nach der neuen vielversprechenden Beute aus, zog sich aber zurück, sowie sie den Zigeunerhauptmann eines Tribus als Führer der Truppe erkannte. Mein Amerikaner war praktisch zu Werke gegangen bei dem kleinen von ihm geleiteten Ausfluge. Er hatte den „Capitano“ gedungen, und unter dessen Geleit ging es weiter aufwärts. Natürlich schloß ich mich an, nachdem ich mich bei dem vor der Hütte lungernden Volke mit einigen Kupfermünzen abgefunden hatte. Der ganze Berg scheint durchhöhlt zu sein von dem heimathlosen Stamme. Wie Maden aus einem alten Käse kribbeln die braunen Gestalten zwischen Steingeröll, Cactusgewilder, unterirdischen Löchern und Höhlen hervor. Der Sacro Monte, oberhalb des Albaycin, ist ihnen allein zugehörig. Dort hinauf bewegte sich unser Zug. An den Abhängen des Berges, zwischen Dorngestrüpp, Cactus, Aloëschaften und wilden Granaten ist der Steinboden stark durchlöchert. Ob der Kalkstein natürliche Grotten bildet, ob Keller, Vorrathskammern, Gräber in römischer oder maurischer Zeit hier künstlich angelegt worden sind, das läßt sich heute schwer errathen. Deutlicher erkennt man im Gibralfarro bei Malaga die Spuren alter unterirdischer Anlagen an den Höhlenwohnungen der dortigen Zigeuner. Hier haben sie sich eingenistet, von hier ziehen sie aus auf Erwerb, auf Beute.

Andalusien durchstreifen und bewohnen die Zigeuner seit vielen Jahrhunderten. Schon vor vierhundert Jahren und oftmals später hat man sie vertrieben, ihnen bei Leibes- und Lebensstrafe die Wiederkehr verboten. Sie warteten dann wohl eine Weile ab, bis die Zeiten unruhiger oder milder wurden, schlüpften da unversehens wieder in’s Land, bargen sich in ihren Grotten und Höhlen und scheinen jetzt zum Stamm der Bevölkerung zu gehören. Unter einander verkehren sie in ihrer Sprache, die der hindostanischen verwandt sein soll. Deshalb wohl hält man sie für Inder, für ausgewanderte oder vertriebene Parias aus dem Lande der Tschinganen oder Zinganen. Von den ihnen nachgerühmten körperlichen Reizen entdeckt man wie gesagt wenig. Entweder sind sie durch das lange Zusammenleben, durch die losen Eheverbindungen zwischen nahen Verwandten, sogar unter Geschwistern, entartet, oder durch die körperliche und moralische Verwilderung zurückgegangen. Reiner, unvermischter, als hier dürfte man aber die Zigeuner weder in Rußland, noch in Ungarn oder Italien antreffen. Mit Kindern überreich gesegnet sind ihre Verbindungen überall. In keiner Lagerstadt fehlt es an Nachwuchs, der mit den Schweinen und den Hühnern aufwächst, bis er selbst für sich sorgt. Wo die Greise, die Kranken bleiben, weiß man nicht recht. In die Versorgungsanstalten und Krankenhäuser kommen sie nur in sehr seltenen Fällen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 824. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_824.jpg&oldid=- (Version vom 8.10.2022)