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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Bilder aus Spanien.

3. Die Zigeuner von Granada und ihre Höhlenwohnungen.
Von Fritz Wernick.

Es war an einem prächtigen Apriltage. Die Sonne neigte sich bereits dem westlichen Horizonte zu, ihr glühendes Licht durchfluthete die langgestreckte Thalflur von Granada, die von dem Genil durchströmte Vega. Es spielte auf den Schneewänden der Sierra Nevada, vergoldete die Zinnenmauern der Alhambra, warf starke Helle und tiefe Schatten auf das Häusergewirre des Albaycin. Morgen sollte Granada verlassen werden. Es war die Stunde des Abschiedes von dem phantastischen Maurenschlosse, der großartigen Landschaft, der schönsten Stätte ganz Spaniens. Ich hatte den herrlichen Löwenhof mit seinem charakteristischen auf zwölf Löwen ruhenden prächtigen Springbrunnen noch einmal durchschritten und lehnte jetzt in einer der Finsternischen jener hohen Halle, in welcher die Maurenfürsten einst Gesandtschaften fremder Mächte empfangen haben. Man trennt sich schwer von dem Landschaftsbilde, das dieser maurische Fensterbogen umrahmt.

Tief am Fuße der senkrechten Felswand, auf deren Höhe die Alhambra thront, fließt in enger Schlucht der klare, kühle Darro, halbversteckt unter Ulmen und vollkronigen Pappeln. Jenseits, uns gegenüber, erhebt sich der Albaycin, einst ein belebter Stadttheil des arabischen Granada, jetzt eine ärmliche Vorstadt von Hütten, aus deren niedrigem Gewirre die Kuppeln einzelner Kirchen sich erheben. Die alte arabische Stadtmauer zieht weit um die verlassenen Höhen, zwischen Cactusgewilder, hohen Aloestauden, Trümmergestein, selbst halb in Trümmern. Einst reichten die Bezirke des Albaycin bis zu ihr hinauf, heute füllt die Bettler und Zigeunervorstadt kaum noch die Hälfte des befestigten Umkreises. Und rechts im Osten tritt majestätisch die Masse der Sierra Nevada hervor, links nach Westen hin breitet die fruchtbare, reich besiedelte Gartenflur der Vega blühend und saftig grün sich aus, umrandet von niederen Bergzügen. Aus diesen Fenstern konnten die Maurenfürsten den fremden Botschaftern ein Land zeigen, wie es üppiger, schöner und herrlicher kaum eines geben mochte auf europäischer Erde.

Das waren auch meine Gedanken in dieser köstlichen Abendstunde. Ein Amerikaner trat hinzu. Er hatte den ganzen Winter in Granada zugebracht, kannte Alles genau; es machte ihm sichtlich Vergnügen, anderen Besuchern Rath zu ertheilen. Er wies mir drüben auf der Höhe des Albaycin eine kleine verlassene Kirche, eine andere tiefer gelegen. Von diesen beiden Punkten sollte die Aussicht auf die Umgebung die schönste sein. Gestern hätte er einige Damen dort umhergeführt, heute wolle er mit größerer Gesellschaft den Rückweg in gleicher Richtung nehmen, dabei den Zigeunern einen Besuch abstatten. Er schien dort sehr bekannt zu sein. Ich liebe bei solchen Wanderungen große Gesellschaften nicht, doch war ein gelegentliches Zusammentreffen mir ganz erwünscht, schon um der kundigen Führerschaft willen.

Bom Alhambrafelsen führt ein schmaler, steiler Weg hinab in die Schlucht des Darro und dann jenseits aufwärts zum Albaycin. Vereinzelt liegen die Hütten an den Pfaden, die sich den Berg hinanziehen. Brunnen, wohl noch aus arabischer Zeit stammend, sieht man unter dem Geröll, zwischen Mauerbrocken, umwuchert von den saftigen Blattscheiben riesiger Cacteen. Das zerlumpte Volk holt dort in Krügen das frische, kühle Wasser, das in diesem Berglande überall reichlich hervorquillt. Die nächste Umgebung ist furchtbar traurig. Wüst, elend, schmutzig, verwildert sind Flur, Wohnungen, Menschen. Nur der Umblick auf die Landschaft erfreut. Denn allmählich tritt jetzt zu dem Uebrigen, zu Hochgebirge und Thalgarten noch die malerische alte Stadt in der Tiefe und drüben, auf der Zinne des gegenüberliegenden Bergrückens, das feste Schloß der Alhambra hervor, jene Thürme, Mauern, Steinmassen, welche das zauberhaft schöne Herrscherschloß umschließen – ein Rundblick, von dessen wunderbarem Reize weder Bild noch Wort eine genaue Vorstellung zu geben vermag. Der Amerikaner hat mit seinem sachkundigen, klugen Rathe unsern Dank verdient, wir lernen Granada von einer ganz neuen Seite kennen.

Und doch sind es bald nicht mehr diese Aussichten, die unsere Aufmerksamkeit vorwiegend in Anspruch nehmen. Die allernächste Umgebung fesselt mehr und mehr unsern Blick, unsern Schritt. An diesen Abhängen nisten Zigeuner. Dieses Volk, anderswo nur gelegentlich erscheinend, umherziehend durch ganz Europa, hat sich nur an wenigen Stätten an feste Wohnsize gebunden, in eine gewisse Heimath gefügt, die es allerdings ebenfalls gelegentlich wechselt, wenn der Wandertrieb übermächtig in ihm wird. Dauernd fühlen die Zigeuner sich nur wohl in Gebieten, welche die Cultur noch niemals erreicht, oder wo sie der Verwilderung wieder Platz gemacht hat. Das Innere von Rußland, die weiten Fluren Ungarns und der unteren Donau, dann Spanien, eigentlich nur Andalusien, sind die Länder, in denen Zigeuner sich seßhaft gemacht haben. An dem Burgberge von Malaga, dem Gibralfarro, der sich mit den Ruinenmassen eines maurischen Castells steil aus dem Meere erhebt, sind sie festgenistet. In Gewölbe und unterirdische Gänge, in Trümmer und Höhlen haben sie ihre düsteren Wohnungen hineingeklebt. Die Oede, das zerstörte und verlassene Menschenwerk scheint sie anzuziehen, da fühlen sie sich am wohlsten. Aehnlich wie am Gibralfarro wohnen sie hier an den Abhängen des Albaycin. Wir kommen an den Hütten oder vielmehr Höhlenwohnungen vorüber. Einen einzigen fensterlosen Raum bildet das Innere. Aus allen Poren der elenden Behausung dringen Rauch und Dünste hervor, Fenster und Rauchfänge sieht man nicht.

Diese Löcher mögen wohl nur als Unterschlupf dienen bei Kälte, Regenwetter, während der Nacht. Struppige Kinder wälzen sich herum, die Weiber hocken meist müßig vor den Thüren.

Jedes Loch im Steinboden ist mit einem Vordach und mit niedriger Thür versehen; manches dient zugleich als Stall, denn es fehlt der spanischen Zigeunerwirthschaft selten ein Maulthier, Esel oder Pferd. Wir treten in den dunstigen, verräucherten, unterirdischen Wohnraum. Ein Krug zum Wasserholen, ein Topf oder eine flache Eisenpfanne, selbstgeschnitte Holzlöffel und Messer bilden die einzige Ausstattung. Man schläft auf dem Steinboden in dürrem Kraute und meidet sonst das scheußliche Erdloch soviel als möglich. Nicht Alle aber haben es so gut, nicht für Alle reichen die Höhlen, Grotten, Ruinen des Sacro Monte aus. Die Anderen schlagen ihr Lager im Freien auf; der Esel, der Kessel oder die Pfanne müssen unter freiem Himmel aushalten, wie sie und ihr junger Nachwuchs.

Zwischen Brocken von antikem Marmorgebälk, verfallenen Resten maurischer Bogenbauten, zwischen kümmerlichen Spuren einer großen Vergangenheit hat diese elende Gegenwart sich gleich Schmarotzerthieren eingefilzt. Ob dieses halbwilde Volk arbeitet? Die Umgebung giebt davon keinerlei Kunde. Um das Haus gackern einige Hühner, eine Ziege knabbert das zwischen den Steinen wuchernde Kraut ab, ein Beet mit dicken Bohnen dicht am Hause zeigt einzig den ganzen Arbeitsaufwand von Feldbau inmitten der Wüste. Die stacheligen Cactusmassen, die überall in dem Gestein wurzeln, geben den spanischen Zigennern oder Gitanos süße Früchte; Milch, Eier, Bohnen gewinnen sie mühelos; arbeiten dürften sie kaum.

Wo aber Zigeuner leben, in Rußland, in Spanien, dahin bringen sie Gesang und Tanz. Auch die heimischen Volkstänze in Granada sind größtentheils Zigeunertänze, die Musik ist vorwiegend Zigeunermusik. Lassen die Bewohner des Albaycin aus Arbeitsscheu auch ihre Umgebung in Schmutz verkommen, so verdienen sie doch gern Geld. Verschlagenheit und Geldgier leuchten aus den großen schwarzen Augen hervor, sobald ein fremder Wanderer sich naht. Sie schlüpfen aus ihren dunklen Räumen, die Kinder starren den Gast an, man nähert sich ihm mit allerhand Dienstfertigkeiten. Es ist, als ob durch ein stilles, geheimnißvolles Zeichen die Kunde, daß in dem Bezirke ein Eindringling weilt, dem ganzen Tribus mitgetheilt werde. Bald tauchen von allen Seiten neue Gestalten auf. Hinter den Scheibenblättern der riesigen Cactus blicken bärtige Männer hervor, alte Weiber humpeln herbei, neugierig, erwartungsvoll schaut das Zigeunervolk den Fremden an. Die Kinder betteln, die Mädchen rüsten sich zu einem ihrer Tänze, die anderen wollen Musik machen, die Männer blicken finster drein.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 823. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_823.jpg&oldid=- (Version vom 6.10.2022)