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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Die übrigen Sansculotten, welche die Beiden umringt und ihrem kurzen Zwiegespräche aufmerksam gelauscht hatten, begrüßten die Worte Pujol’s mit lärmender Freudigkeit und mit Späßen, die an Derbheit und schamloser Frechheit nichts zu wünschen übrig ließen. Margot hatte sich den Sack aufgeladen, und Pujol drängte sie in seine Wohnung, die dicht neben dem Raume lag, der den Sansculotten als Wachtstube diente. Le Borgne wollte ihnen folgen, da wandte der Alte sich um, und den frechen Menschen aufhaltend, sagte er, ohne einen Anflug von Eifer oder gar Zorn, doch sehr bestimmt:

„Dies ist meine Wohnung, und in ihr wie bei meiner Magd hast Du nichts zu schaffen. Geh’ und sieh nach dem Gefangenen, für den Du aufzukommen hast.“

Le Borgne zog sich brummend zurück, und auf die Kirche zuschreitend, murmelte er vor sich hin:

„Die Geschichte gefällt mir nicht – und doch überläßt er mir den Gefangenen. Hol’ ihn der Satan! Schon längst müßte der Cidevant der Guillotine verfallen sein. Bis das geschieht, will ich ihm schon der rechte Wächter sein.“

In dem Wohnraume begann Pujol mit Hülfe Margot’s rasch den Sack seines Inhalts zu entleeren. Würste, Schinken kamen zum Vorschein, doch endlich auch ein eingeschnürtes Bündel, das der Alte rasch und geschickt in einer Nebenkammer barg. Der Proviant wurde draußen von den Männern gierig in Empfang genommen, Pujol und Margot trugen Kannen mit Wein herbei, den sie aus einem der Fässer gezapft hatten, die in einem der nahen Schuppen lagerten. Dann begann das Frühstück der Wächter, und die arme Margot schien für Augenblicke Ruhe vor ihren wüsten Scherzen zu haben.

Da wurde stark wider das Eingangsthor gepocht, und als Pujol den schweren Riegel weggeschoben hatte, trat ein Mann in der Carmagnole, mit einem umgehängten Säbel und auf der rothen Mütze eine große Cocarde, in den Hof. Es war einer der Wächter und Diener des Revolutions-Tribunals, von dem öffentlichen Ankläger abgesandt, den Gefangenen vor seine Richter zu führen. Sofort beauftragte Pujol zwei der Männer, mit dem Gerichtsdiener dem Le Borgne nachzueilen und die Befehle des Tribunals zu vollziehen. Fluchend, in ihrem köstlichen Frühstück gestört worden zu sein, erhoben sich diese und schritten mit dem Gerichtsdiener auf die Kirche zu, in deren Eingang sie verschwanden. Die Zurückgebliebenen lachten ihrer und versprachen, für sie zu essen und zu trinken, welche Worte denn auch im vollen Sinne wahr gemacht wurden. Wenige Augenblicke später durchschritt der kleine traurige Zug den Hof des Gefängnisses, um sich nach dem Revolutions-Tribunal zu begeben. In der Mitte der vier bewaffneten Sansculotten ging Graf René, wenn auch mit bleichen Zügen, doch furchtlosen Blicks vor sich schauend.

Pujol war beim Frühstück geblieben, tapfer mitessend und trinkend, doch Margot stand in der Stube und blickte durch die kleinen halbblinden und theils zerbrochenen Scheiben des Fensters hinaus in den Hof. Die gefalteten Hände hielt sie auf die heftig arbeitende Brust gepreßt, und ihren schönen Augen entquollen Thränen. Jetzt sah sie den Gefangenen vorüberschreiten, und ihre Lippen zuckten, als hätte sie laut aufschreien wollen. Doch sie beherrschte sich, mußte aber die Hände von dem Herzen fahren lassen, um einen Halt zu suchen, da ihre ganze Gestalt wankte und niederzusinken drohte. Nun bewegten sich die Lippen wirklich, doch nur wie in inbrünstigem Beten. Da hörte sie die Stimme Pujol’s, der laut und mit auffallender Heiterkeit seinem vorüberziehenden Stellvertreter zurief:

„Nun kannst Du die Annehmlichkeiten Deiner neuen Stellung kosten, Le Borgne, während wir hier für Dich den saftigen Schinken und den Wein kosten werden und zwar auf Dein Wohl! Es ist übrigens zweifelhaft, ob wir Dir etwas übrig lassen. Sage dem Bürger Ankläger nur noch, daß draußen Alles in schönster, bester Ordnung ist.“

Bei den letzten Worten hatte er den Grafen mit einem sprechenden Blick gestreift, den dieser verstanden haben mußte, denn sein Antlig heiterte sich für einen Augenblick auf. Da schrie Le Borgne bereits unter dem Thor mit einer Stimme, die vor grimmem Zorn bebte:

„Ich verzichte auf den Schinken, wenn ich nur morgen den Kopf des aristokratischen Schurken dafür erhalte, und ich hoffe, daß ich nur mit einem Verurtheilten zurückkehren werde.“

Es war ein Glück, daß in diesem Augenblick das schwere Bohlenthor des Hofes hinter den Vieren mit Gewalt zuschlug, denn in dem lauten dröhnenden Schall erstarb der Aufschrei einer weiblichen Stimme, der aus der Wohnung Pujol’s hervorgedrungen war. Der Alte mußte ihn dennoch gehört haben; die Schmausenden, zu eifrig mit ihrem Speisen beschäftigt, hätten ihn nicht vernommen, auch wenn er noch heller ertönt wäre. Sie bemerkten es nicht einmal, oder beachteten es nicht, daß Pujol sich erhob und rasch in seine Wohnung trat.

„Was habt Ihr mir versprochen?“ raunte er fast grimmig Margot zu. „Wo ist der Muth hin, dessen Ihr Euch rühmtet? Es gilt einen schweren Kampf, und wenn Ihr Euch nicht besser beherrscht, ist er für uns und für ihn verloren.“

„Vergebt mir,“ flüsterte Margot in hastiger Weise ihm zu. „Es überkam mich, weil ich das erste Mal ihn wiedersah. Nun sollt Ihr mich stark und ruhig, fähig und bereit zu Allem finden.“

„Will es zu Gott hoffen – für uns Alle,“ brummte der Alte. Doch nun kommt hinaus und verseht Euren Dienst, damit wir sie immer mehr zum Trinken bringen und dann an unsere Arbeit gehen können. Der Augenblick ist günstig und kommt nicht wieder. Die drei Gefährlichsten der Bande hab’ ich glücklich hinausgeschafft, die Uebrigen sind weniger, hoffentlich gar nicht mehr zu fürchten“

Der Alte hatte recht geschlossen, denn als er mit Margot hinaustrat, fanden sie die vier zurückgebliebenen Sansculotten bereits in einem mehr oder minder unzurechnungsfähigen Zustande. Ihren Krügen, die von Pujol stets auf’s Neue gefüllt worden waren, hatten sie derart zugesprochen, daß Einer von ihnen schon eingeschlafen war. Ein Anderer suchte beim Erscheinen Margot’s sich aufzurichten, um die Dirne mit grellem Jauchzer zu umfangen, doch er berührte sie nicht einmal, strauchelnd gerieth er in ein Taumeln und fiel dann schwer zur Erde nieder.

„Trinkt, Ihr Burschen!“ rief Pujol den beiden Andern zu. „Dürft es, denn es giebt im Augenblick keinen Gefangenen mehr zu hüten, und schlaft Ihr darüber ein, so wachen wir für Euch. Komm, Margot, greif zu, mein Kind!“

Die beiden Wächter nickten zustimmend, und was sie sonst noch erwiderten oder vielmehr lallten, ging in den Kannen unter, die sie abermals zu langen Zügen an die Lippen setzten. Pujol hatte Margot zurück in die Wohnung gezogen, hier flüsterte er ihr in ernster Weise zu:

„Merkt auf! Ich führe Euch jetzt durch die Gebäude hinter der Wagenburg her bis in die Nähe der Sacristei; prägt Euch den Weg ein, damit Ihr ihn später finden und unbemerkt dorthin gelangen könnt. Für jetzt müssen wir das Bündel in der Nähe und am rechten Ort bergen.“

Zugleich war er mit Margot in die Nebenstube getreten, hatte dort das Bündel aufgenommen, und nun ging es weiter.

Auf dieser Seite des Hofes der Abtei reihte sich Bauwerk an Bauwerk, klein und groß, zum Bewohnen eingerichtet oder ehemals als Stallungen oder Schuppen dienend, doch waren sie zum größten Theil mit der Kirche zerstört worden. Vor den ganz im Hintergrund des Hofes liegenden Ruinen standen die Karren, wohl zwanzig an der Zahl, noch immer mit mehr oder minder faulendem Stroh bedeckt. Durch Thüren und Mauerlücken führte der Weg, auf dem Pujol und Margot sich ihnen näherten; einmal in ihrem Bereich durften sie auf den Hof treten und ungesehen hinter ihnen wegschreiten. Denn die Karren bildeten in der That eine Wagenburg, die zugleich die Sacristei deckte.

„Dort ist’s!“ flüsterte der Alte seiner Begleiterin zu, mit sprechendem Blick auf die kleinen Fenster des Ausbaus der Kirche deutend. „Und das Nöthige habe ich vorbereitet.“

Dann barg er auf einem der Fuhrwerke das Bündel und schichtete frisches Stroh darüber. Als dies geschehen war, traten beide wieder den Rückweg an, und Pujol flüsterte mit einem schweren Seufzer vor sich hin:

„Gott gebe, daß es gelinge!“

„Es muß gelingen!“ entgegnete ihm Margot mit mächtig aufflammendem Muthe. Habt Ihr denn nicht gehört, was der Elende, der ihn zu seinen Richtern führte, beim Verlassen des Hofes sagte? Er müsse verurtheilt und morgen – es ist entsetzlich! mein Mund vermag es kaum auszusprechen! – morgen guillotinirt werden?“

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