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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die Franzosen waren seit mehr denn zwei Jahrhunderten derart gewohnt, auf dem Gebiete der Mode, d. h. der Tracht, sowie der inneren Ausstattung unserer Wohnräume, bei Möbeln, Stoffen, Bronzen, Gläsern, Majoliken, Stickereien und all den Tausend kleinen Gegenständen, die damit zusammenhängen, kurz in allem was den sogenannten guten Geschmack anbelangt (der jedoch auch in Frankreich vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis zur Mitte des unsrigen ein durchaus verdorbener war), den Ton anzugeben, sodaß sie es schlechterdings nicht begreifen können, wie ein anderes Volk, und nun gar noch das deutsche, es sich einfallen lassen kann, auf diesem Felde (der eigentlich französischen Domäne, wie sie meinen) mitreden und mitthun zu wollen!

Ich sprach vor einiger Zeit mit einem patriotischen Engländer über dieses Thema und hatte die Genugthuung zu sehen, wie derselbe, der Frankreich und die Franzosen kennt, aus dem Benehmen der Letzteren etwas herausgefühlt hatte, was ihn mächtig erzürnte.

Die Franzosen, sagte er, haben die Unverschämtheit, darüber erstaunt zu sein, wenn in England in neuester Zeit das oder jenes geschmackvolle Stück Möbel, Majolika etc., erzeugt wird; ja wirklich erstaunt sind sie, aufrichtig erstaunt, oder thun wenigstens so! Was meinen Sie dazu? – Lassen wir sie staunen, antwortete ich, und arbeiten unverdrossen weiter; – der Rest wird sich finden! –

Dieser Rest nun hat sich, wenigstens in sehr erfreulichen Anfängen, heute schon gefunden; er besteht darin, daß wir die französische Industrie auf zahlreichen und hochwichtigen Gebieten mehr und mehr vom Markte verdrängen und ihr jetzt schon in der eigenen Hauptstadt, in der „Weltleuchte“ Paris, um mit Victor Hugo zu reden, eine sehr ansehnliche Concurrenz machen.

Der Handel hat bekanntlich keine Nationalität und trotz aller patriotischen Phrasen kauft selbst der französische Négociant, wenn auch heute nur ganz im Stillen, die Waare da, wo er sie am Besten und zugleich billigsten findet, mag das nun in England, in Deutschland oder anderswo sein; der ausländische Zwischenhändler aber kommt ohne Weiteres direkt zu uns, um sich in unseren Fabriken nach Kräften zu versorgen. Das hat nun nicht nur für den französischen Handel, sondern auch für die dortige Industrie und damit auch für die socialen Verhältnisse seine gewichtigen Folgen.

Früher, als Frankreich gerade in den lohnendsten und bedeutendsten Industriezweigen eine Art von Weltmonopol besaß, konnte der Fabrikherr bei dem immer wiederkehrenden Drängen der Arbeiter nach Erhöhung ihres Lohnes stets noch nachgeben, wenn er es auch, so er ein verständiger Mann war, nur mit Widerstreben that; heutzutage aber hat das aufgehört, da jetzt schon trotz Zöllen und Frachtkosten das deutsche Fabrikat in vielen Fällen mit dem französischen, selbst auf französischem Boden, in Concurrenz treten kann; und zwar bezieht sich dies nicht nur auf jene form- und kunstlosen Gegenstände des täglichen Gebrauchs, die in unsern übervölkerten Landstrichen, wie z. B. in Sachsen, längst schon zu den denkbar wohlfeilsten Preisen hergestellt wurden, sondern es handelt sich dabei um jene Producte, welche durch die Kunst veredelt sind und stets einen verhältnißmäßig hohen Werth besitzen. Daß diese Hebung unseres Kunstgewerbes das Ergebniß langjähriger Anstrengungen sei, bei denen Regierungen, Körperschaften, Gemeinden und Private in gleicher Opferwilligkeit wetteifern, wobei Schulen und Museen gegründet und neben gewaltigen Fabrikanlagen auch die verglimmenden Reste eines volksthümlichen Klein-Gewerbes, als sogenannte Hausindustrie (die segensreichste von allen), da und dort wieder neu belebt, gehoben und unterstützt und die vorhandenen Kräfte bestens ausgenützt wurden, ist den Franzosen selbstverständlich bis vor kurzem ebenso unbekannt geblieben, wie die schneidige Trefflichkeit unserer Heere und die Genialität von deren Führern es war, ehe die große Stunde ernster Probe und blutiger Entscheidung geschlagen hatte; sie können es daher nicht fassen und waren und sind erstaunt!

Aber wie sie damals Verrath witterten, wo Unfähigkeit und sorgloser Uebermuth mehr denn genügend waren, ihre Niederlage zu erklären, so suchen sie auch heute auf industriellem Gebiete nach allen möglichen Ausflüchten und Entschuldigungen, von denen eine abgeschmackter ist wie die andere: – die Deutschen stehlen ihnen ihre „Modelle“; der Frankfurter Vertrag mit seinen Handels- und Zoll-Clauseln ist vom bösen Reichskanzler ganz besonders ausgeklügelt worden, um die Franzosen finanziell zu Grunde richten (während sich in Wahrheit die Sache so verhält, daß, wenn jene Clauseln nicht wären, wir ihnen noch ganz anders auf den Nacken steigen würden), und schließlich läuft Alles, um der Narrheit die Krone aufzusetzen, darauf hinaus, daß man nicht nur gegen die deutschen und italienischen Arbeiter hetzt, sondern daß man überhaupt jedem Fremden den Aufenthalt in der „Weltleuchte“ möglichst verleidet, was unter den obwaltenden Umständen um so mehr an Schild- oder Lalenburg erinnern muß, als sich die ganze Sache für die Pariser ja um möglichste Wiedergewinnung des verlorenen Absatzes und um Verminderung der allzuhohen Arbeitslöhne dreht. –

Die richtige Würdigung der Vorgänge, die zur schließlichen Wiederbelebung und neuen Blüthe unseres Kunstgewerbes geführt haben, würde für die Franzosen ebenso belehrend sein, wie das Studium unserer militärischen Einrichtungen es für sie war, und es könnte bei der unleugbar hohen künstlerischen Begabung jenes Volkes am Ende doch ein Zustand erreicht werden, bei dem sich die gegenseitigen Leistungen der beiden Nationen das Gleichgewicht hielten oder wenigstens ergänzten. Von alledem ist aber bis jetzt gar nicht die Rede, sondern ein wüstes Chaos von Klagen, Beschuldigungen und tollen Vorschlägen erfüllt dort die Luft.

Besonders ergötzlich und dem oben gegeißelten „Erstaunen“ an die Seite zu setzen ist darunter ein Antrag gewisser Pariser Syndicate oder Comités: Es möchten die diplomatischen Vertreter Frankreichs heraus zu bekommen suchen, worin denn eigentlich dieser neue und unerhörte deutsche Geschmack bestehe, damit man sich darnach richten könne.

In den Augen der genannten Syndicate ist ja die ganze großartige Hebung unserer Industrie nichts weiter als eine vorübergehende Modesache, etwa so, wie Pariser Geschäfte uns heute einfarbige und morgen carrirte Stoffe, heute die Crinoline und morgen das glatt anliegende Gewand zusenden.

Daß die Bewegung aber eine ganz andere Tragweite habe, daß sie nicht mehr und nicht weniger bedeute, als eine Wiedergeburt des Kunstgewerbes, wobei den deutschen Stämmen, also auch Deutsch-Oesterreich, und in gewisser Beziehung auch England, eine ganz hervorragende Rolle zufalle, und daß Frankreich auch auf diesem Gebiete die Führung thatsächlich schon verloren habe, das scheint den französischen Staatsmännern, Fabrikanten und Künstlern noch nicht zum klaren Bewußtsein kommen zu wollen.

Man hat in Deutschland selbst, wie das ja nicht anders sein konnte, über die Richtung, welche unser Kunstgewerbe einhalten sollte, viel theoretisirt und debattirt, und im Norden, wo die Gothik immer noch einen gewissen Halt hat, mag dies an manchen Orten heute noch fortdauern; angesichts des gewaltigen allgemeinen Fortschrittes ist es jedoch von nebensächlicher Bedeutung, ob die modernen Schöpfungen in dem oder jenem Stile gehalten, ob sie getreue oder freie gelungene Nachbildungen alter Meisterwerke seien, wenn sie überhaupt nur edel und stilgerecht sind, „Schnitt und Rasse“ zeigen.

Der Kern der Sache liegt ja darin, daß durchweg wieder ein Verständniß für künstlerische Durchbildung auch des alltäglichsten Geräthes sich fühlbar macht. Diese Freude an schöner, edler Form ist nun, wie gesagt, glücklicher Weise heute wieder vorhanden und bethätigt sich unter Anderem auch darin, daß gute alte Arbeiten von Tausenden von Liebhabern eifrig gesucht und daß, wenn es sich um Hervorragendes handelt, Preise dafür gezahlt werden, die den Laien überraschen.

Es wurden übrigens in den letzten Jahren besonders auf dem Gebiete der getriebenen Metallwaaren, des feineren Bronzegusses, der Möbelfabrikation und der Kunststickerei an den Hauptcentren unserer modernen Kunstindustrie (München, Wien, Berlin, Stuttgart, Karlsruhe und Dresden) Prachtstücke erzeugt, die es in Bezug auf künstlerischen Werth und technische Vollendung mit den echten alten wohl aufnehmen können; doch sind es im Allgemeinen, von den Möbeln abgesehen, Ausnahmeleistungen, die auf besondere Bestellung als Geschenke, Festpreise etc. für Fürsten oder Corporationen angefertigt wurden.

Viel wichtiger ist es auf den Standpunkt zu kommen, daß unser eigentliches Hausgeräthe, mit den Möbeln angefangen, den Anforderungen des guten Geschmackes entspreche, was bei einfacher, wenn auch nicht gerade armseliger Ausführung und Ausstattung ebenso gut der Fall sein kann, wie bei reicher.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 744. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_744.jpg&oldid=- (Version vom 20.10.2022)