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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 45.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


„Fanfaro.“
Novelle von Stefanie Keyser.
(Fortsetzung.)


Unter den ersten Bäumen des Waldes trat Ereme der weißhaarige Professor im altdeutschen Rocke entgegen. „Wollen Sie auch hinauf an die Siegessäule?“ rief er. „Ja, in diesen Tagen drängt es uns dahin. Ich komme von dort, hab’ meinen Hut gezogen vor den Gedenktafeln und ein ‚Gut Heil‘ in den deutschen Eichwald hinein gerufen. Ich altes Haus kann ihnen nichts weiter zu Gute thun dafür, daß sie so herrlich ausgeführt, was wir geträumt haben. Nun, der Eine erliegt auf dem Wege nach dem großen Ziel, der Andere nimmt ihm die Arbeit ab und bringt das Werk zu Ende. Selig der, welcher scheidend noch den anbrechenden Tag erblicken darf. Und dafür dank’ ich meinem alten Gott.“ Er schwenkte seinen breitrandigen Hut und wanderte fürbaß der Stadt zu.

Ereme hatte zu Boden geblickt. Sie wagte nicht, dem Greis in die verklärten Augen zu sehen.

Kein Vogel sang mehr im Walde; nur das Brausen der Wipfel erfüllte die Luft. Kein bunter Blumenteppich breitete sich aus, das Waldesdunkel freundlich erhellend; die zarten Waldlilien waren verwelkt, die blauen Blüthen des Ehrenpreis verweht. Die hohe Zeit des Jahres war vorüber, die Sonnenrosse lenkten abwärts; nun ging’s dem kalten öden Winter zu.

Da stand bei einer Biegung des Weges vor ihren trostlosen Augen Melanie. Ihre Wangen waren rosig angehaucht, in der Hand hielt sie einen Strauß von Heckenrosen und Hagebutten an denselben Zweigen, die sie auf einer lichten Stelle des Waldes von einem wilden Rosenstrauche gebrochen hatte.

Die Stiftsdame erschrak. Sie hatte nach den stürmischen Tagen sich erholen wollen. Nun folgte ihr auch in die Waldesstille das Verhängniß.

Sie ergab sich darein. „Ich liebe diese herbstliche Stimmung über Alles,“ sagte sie, Ereme begrüßend. „Der Wald hebt ein Schlummerlied an, das mir zu lauten scheint: ‚Die Blüthen sind verwelkt, die Blätter müssen fallen; so vergeht Alles: Freud und Leid.‘“

„Und mir klingt das Brausen der Wipfel,“ erwiderte Ereme, „wie die Klage der Natur, die nach dem Worte stöhnt, das sie erlösen soll.“

„Jeder hört aus der Stimme der Heimath das heraus, was seine Seele bewegt,“ antwortete Melanie. „Sie ringen noch mit den Aufgaben des Lebens, ich habe abgeschlossen und sehne mich nach Ruhe.“

Stumm gingen sie weiter. Das Kriegerdenkmal stieg vor ihnen auf.

Ereme stand unter dem Zweige, den Witold damals über den Weg gespannt hatte. Leise strich sie über die herb duftenden Blattrosetten. Um die Kanonenrohre flatterte eine ganze Meisenfamilie und sang voll Schabernak ihr: „Sitz ich doch!“ Der Epheu hatte neue Ranken zu den ehernen Tafeln emporgesendet und sie mit grünem Kranze umschlungen.

Melanie ging der Siegessäule zu. Ereme blieb stehen. Es war ihr, als dürfe sie diesen Boden nicht betreten.

Da erhob sich neben dem Denkmal auf der Stelle, wo sie in der Johanniszeit geruht hatte, plötzlich eine Gestalt. Er war es.

Und so wie sie damals herabgeschritten war, ernst und kalt, so kam er langsam an sie heran. In seinen bleichen Zügen lag keine Herausforderung, kein Uebermuth, kein dreister Scherz. Ein fester düsterer Ernst stand auf seiner Stirn geschrieben, dessen sie ihn nie für fähig gehalten hatte.

Nun war der von ihr prophezeite Augenblick gekommen, da sie an einander vorübergehen konnten, als hätten sie sich nie gekannt.

Warum wurzelte nun ihr Fuß am Boden, während er mit stummem ernstem Gruße weiter schreiten wollte?

Melanie konnte die Quälerei nicht mit ansehen; ihre Natur suchte für Alles friedlichen Ausgleich; selbst wo ein Abschied das Ende war, sollte ihm das Herbe genommen sein. Sie redete ihn an. „Wir wollen Sie nicht vertreiben, Herr von Bartenstein. Wenn einen tapferen Officier in diesen erinnerungsreichen Tagen sein Herz an die Stätte treibt, wo den Waffenthaten unseres Volkes ein Denkmal gesetzt wurde, dann ziemt es uns, die nichts leisteten, seine Empfindungen zu ehren und uns zurückzuziehen.“

„Ach, es wäre besser, gnädiges Fräulein, man brauchte sich nicht zu erinnern, sondern könnte Alles schnell vergessen,“ sagte er mit bitter zuckenden Lippen im Vorüberschreiten.

Die Stiftsdame schloß sich ihm an und wandte sich ebenfalls zum Heimweg. Während Ereme zitternd zu ihrer Rechten ging, richtete Melanie über ihre linke Schulter den Blick auf Bartenstein, der zaudernd stehen bleiben wollte.

„Das wäre traurig. Wie gering wiegt das Leid, eine persönliche Kränkung nicht vergessen zu können, gegen die hohe Gnade, daß wir die glorreichen Thaten unseres Volkes im Gedächtniß bewahren dürfen! Würden Sie die Erinnerung an den Todesritt von Vionville hingeben wollen?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 733. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_733.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)