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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Das Schlittschuhlaufen war, zum Theil durch Klopstock’s begeisterte Oden, Mode geworden und nur wenige Personen des Hofkreises schlossen sich von dieser reizvollen Bewegung aus. Es wurden Schlittschuhpolonaisen aufgeführt, Quadrillen versucht oder Hand in Hand Reihen- und Schlangenläufe gehalten.

Dann versammelte man sich an einem mit Bänken und einem Windofen versehenen Bretterhäuschen, das am Ufer hergerichtet war, plauderte, lachte, ersann neue Uebungen und ging mit frischen Kräften an das leidenschaftlich betriebene Vergnügen.

Eben fuhr wieder die ermüdete Jugend mit erhitzten Wangen und leuchtenden Augen am Büffetzelt zusammen.

Da erklangen ein paar schmetternde Trompetenstöße, und ganz unerwartet kam ein Maskenzug herangelaufen. Die fackeltragenden Husaren bildeten eine hellbeleuchtete Gasse, durch welche diese Ueberraschung, mit freudigen Ah’s! und schmeichelhaften Zurufen begrüßt, daher flog.

Es war eine Kosakenhochzeit, die man darstellte. Der Hetmann, mit geschwungener Knute voran, dirigirte das Ganze, dann folgten Musikanten mit Trompeten, Pauke und Trommel, die einen seltsamen Lärm im Laufen aufführten. Hierauf das Brautpaar mit Kränzen und Sträußen komisch ausgeputzt, darauf die Eltern und Hochzeitsgäste. Dieser Zug führte einen scherzhaften, wilden Eistanz auf und fand großen Beifall; es waren die gewandtesten Läufer aus der Gesellschaft, die sich eben, außerhalb der Beleuchtung, im Wagen oder Gebüsch den Maskenputz übergeworfen hatten.

Den Bräutigam machte Siegmund von Seckendorf, die Braut Auguste von Kalb. Eines der nächsten Paare war Christel von Laßberg mit ihrem Vetter, dem Grafen Erich Wrangel, der wieder in ihrem Hause zum Besuch war; den Kosaken-Hetmann machte Goethe.

Als man nach Beendigung des Tanzes auf den Versammlungsplatz zufuhr, glitt Seckendorf, seine Partnerin an der Hand haltend, zum Herzoge heran.

Dieser empfing ihn lachend und lobend:

„Sie waren Beide vorzüglich, und die Ueberraschung ist prächtig gelungen! Ich hatte keine Ahnung von Ihrem famosen Witz!“

„Sollten wir Durchlaucht vielleicht noch eine Ueberraschung bereiten können?“ rief der Bräutigam. „Hier stelle ich Eurer Durchlaucht Fräulein Auguste von Kalb als meine Braut, und nicht allem im Spiel, sondern in Wirklichkeit vor!“

„Ah!“ machte Karl August, „endlich! Das ist ja ein wahres Gaudium: Gustchen kommt unter die Haube; na, sie wird froh sein!“

„Das sind wir Beide, Durchlaucht,“ sagte Auguste empfindlich.

„Eh natürlich, er hätt’s sonst ja lassen können. Freut mich aber recht für Sie Beide, und nun kommen Sie heran, daß ich Ihre Gesundheit mit einem vollen Glase heißen Punsch ausbringe. Das neue Brautpaar lebe hoch, hurrah!“

Ein Tusch, und sämmtliche Anwesende riefen mit: hurrah, hurrah!

Dann ging es an ein Umdrängen, Glückwünschen, Händeschütteln und Besprechen des neuen Ereignisses. Die Meisten hatten sich’s lange gedacht, daß es so kommen müsse. Andere verlangten Einzelheiten, knüpften unter sich Muthmaßungen an und machten spöttische Bemerkungen, sowie sie den Rücken wandten.

Dies alles widerte Goethe an; unmuthig warf er seine Knute in die Ecke. Sein Blick schweifte über die einsame, mondbeglänzte Fläche des Sees, er bot einer zufällig neben ihm stehenden Dame die Hand und sagte:

„Kommen Sie, Fräulein von Laßberg, lassen Sie uns dieser tollen Komödie den Rücken wenden!“

Sie legte stumm und beseligt ihre Hand in die seine, und langsam glitten sie zusammen über die Eisbahn.

„Die Höflichkeit des Herzens ist in der besten Gesellschaft so selten, wie die Polizei des Gewissens!“ sprach er ernsten Tons. „Mit Verdruß sehe ich, wie man kaum heimlich Witzboldereien auf der Glücklichen Unkosten losläßt und ihnen Rübchen schabt. Zudem bin ich kein Verehrer Ihrer Freundin, die als schüchterne Braut in meinen Augen eine lächerliche Farce spielt. Wie wird dies Wesen auf Seckendorf wirken, der eben anfing sich zur Natur und Wahrhaftigkeit zu bekehren?“

„Sollte die Liebe nicht immer veredeln?“ wagte Christel zaghaft zu entgegnen.

Er sah zur Seite auf seine Begleiterin; vielleicht blickte er sie jetzt zum ersten Male mit etwas wie Interesse an. Das Mondlicht spiegelte sich m ihren ernsten Augen, die mit seelenvollem Ausdruck auf ihn schauten, ihre schlanke Gestalt hob sich vortheilhaft in dem hellblauen Kosakenjäckchen, er fand sie hübsch, aber zu blumenhaft zart, um ein rechtes Gefallen an ihr zu haben. Ihr ganzes Wesen erinnerte ihn an seine überwundene jugendliche Sentimentalität.

Vor acht oder zehn Jahren hätte sie mir vielleicht gefährlich werden können - und doch nicht, ich liebte immer mehr das Naive - dachte er und erwiderte:

„Die Liebe, gewiß; aber was ist denn zwischen den Beiden Liebe? Sie können sich einander gebrauchen, das ist Alles! Man erkennt ja Niemand an als Den, der uns nützt.“

Seine Worte thaten Christel weh, sie waren in dem unbewußten Verlangen, ihrer Gefühlsschwelgerei entgegen zu treten, herber gesagt, als er’s meinte. Schwermüthig antwortete sie:

„O, wie öde ist das Leben, wenn ich es aus jenem Gesichtspunkte ansehe! Man sollte es von sich werfen, wenn es ohne reine, gewaltige Empfindungen ist!“

„Sie sind ja kurz damit fertig, mein Fräulein. Ich will Ihnen zu Ihrer Ermuthigung erzählen, was mir heute meine Mutter schreibt - eine prächtige alte Frau, die viele Menschen gern haben und Frau Aja nennen; sie sagt: Suche keine Dornen, mein Sohn, hasche die kleinen Freuden; sind die Thüren niedrig, so bücke Dich; kannst Du den Stein aus dem Wege stoßen, so thu’s, ist er zu schwer, geh’ um ihn herum, so wirst Du alle Tage etwas finden, das Dich freut!“

„Ja, wer das könnte, so leichten Sinnes wäre!“

„Ich antworte wieder mit Frau Aja’s Worten: Wer wird sich grämen, daß nicht immer Vollmond ist, und daß die Sonne jetzt nicht so warm macht wie im Juli? Nur das Gegenwärtige gut gebrauchen und gar nicht daran gedacht, daß es anders sein könnte, so kommt man am besten durch die Welt, und das Durchkommen ist doch die Hauptsache!“

„Ach, oft ist es sehr schwer!“ seufzte sie leise.

Man kam eben wieder bei der Gesellschaft an, und Goethe war im Grunde froh, die trübe Gefährtin zu verlassen. Ihn hatte das Zusammensein nicht von dem Unbehagen entlastet, welches jene Verlobung ihm verursachte.

Christel war nicht ganz unberechtigt, vorahnend Sorge und Schmerz zu empfinden. Sie wußte längst, daß ihr Vater sie mit dem reichen Majoratsherrn, ihrem Vetter Erich Wrangel, zu verbinden wünsche, und heute hatte sie den sie beängstigenden Eindruck gewonnen, daß Erich sie liebe und um sie zu werben beabsichtige. Die plötzliche Verlobung Augustens mit dem Kammerherrn von Seckendorf mußte - davon war sie überzeugt - den alten Herrn furchtbar aufregen und mit eifersüchtigem Zorn erfüllen. Er würde in sie dringen, jene bessere Partie nicht auszuschlagen, und konnte sie dem Vetter, dem sie wie ihrem Bruder gut war, eine Neigung heucheln, die sie nicht für ihn empfand? Ein Herz geben, welches ein Anderer völlig ausfüllte? Konnte sie eine Ehe ohne Liebe eingehen? Nie! Niemals!

Als nach der Rückkehr zum Bretterhäuschen Goethe sich von Christel verabschiedet hatte, trat sogleich der Vetter Erich zu ihr und bat sie, auch mit ihm noch ein paar langsame Fahrten zu machen. Er erklärte sich aber auch sogleich bereit, sie nach Hause zu begleiten, als sie über Müdigkeit klagte.

Die Gesellschaft befand sich ohnehin im Aufbruche, und so ließen Beide ihre Schlittschuhe abschnallen, er reichte ihr den Arm, welchen sie zerstreut annahm, und dann begaben sie sich, ziemlich abgesondert von den Uebrigen, auf den mondhell beleuchteten Heimweg.

„O liebe Cousine!“ begann nach einigen Schritten der junge Mann mit warmem Tone, „welch ein glückliches, heiteres Leben habe ich während der ganzen Urlaubszeit an Deiner Seite geführt! Welch ein köstliches Fest war dies wieder! Mir ist, als sollte ich aus einem Himmel scheiden, wenn ich in wenigen Tagen abreise! Könnte ich’s mit der Gewißheit, meines Engels Herz gewonnen zu haben, so würde ich beseligt von hinnen gehen, aber diese Gewißheit fehlt mir noch. Christinchen, liebes Christinchen, sag’ mir’s offen, wie Du für mich empfindest! Warum bist Du manchmal so scheu und kühl gegen mich? Was darf ich von Dir hoffen?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 726. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_726.jpg&oldid=- (Version vom 10.3.2023)