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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

das sentimentale Pärchen, für welches Niemand so gut paßte. Sie sangen zusammen aus Flotow’schen Opern, oder, wenn sie ernste Musik machten, das Duett von Mendelssohn: „Ach, wie so bald verhallet der Reigen!“ Und gleich einem Lied ohne Worte begleitete sie die Liebe, die nie ausgesprochen wurde und doch aus jedem Blick strahlte und im Klang der Stimmen ein Echo fand, durch ihre erste Jugend.

Es war zu Ende der fünfziger Jahre, und in jener Zeit schienen die Verhältnisse in den Kleinstaaten still zu stehen wie die Luft an heißen Sommertagen. Niemand ahnte, daß es die Stille vor dem Gewitter war. Wie das Staatsleben seinen monotonen Gang ging, so nahm das Gesellschaftsleben jahraus jahrein den gewohnten Verlauf.

Ihre Mutter begann bereits die großen Leinentruhen, die noch von dem längst in andere Hände übergegangenen Gut stammten, auszupacken, und ihr Vater überlegte, wie eine neue Hypothek auf das Haus aufzunehmen sei, um das obere Stockwerk zur Wohnung für das junge Paar auszubauen; denn daß Arved niemals aus der Residenz versetzt werden würde, wo er als Kammerjunker nebenher Dienst that, das stand bei Allen fest.

Eine etwas andere Schattirung trug das Benehmen seiner Familie. Seine Mutter glitt stets mit geflissentlicher Eile an Melanie vorüber, und der General sah in die Luft, wenn das junge Paar zum drittenmal mit einander tanzte. Sie hatten ja den Sohn zu vergeben, der Oberjägermeister nur die Tochter.

Da, als wieder der Herbst kam, veränderte sich das Bild. Es erschienen in der Residenz einige Familien von benachbarten Rittergütern, die ihre herangewachsenen Töchter bei Hofe und in der Gesellschaft präsentirten, um sie an den Festlichkeiten des Winters theilnehmen zu lassen.

Auf dem ersten Hofball, den sie mitmachten, tanzte Arved zum erstenmal den Cotillon nicht mit Melanie, sondern mit der weißblonden Tochter einer der fremden Familien. Seine Mutter sei mit ihren Eltern liirt, warf er wie entschuldigend hin.

Für weitere Vernachlässigungen fand er keine Erklärung mehr nöthig. Die Herzlichkeit des Tones ging in Höflichkeit über, er nahm noch die conventionelle Rücksicht; endlich war er aus ihrem Gesichtskreis entschwunden. Sie zersann sich den Kopf darüber, was ihn veranlaßt haben könnte, sich von ihr abzuwenden, und konnte den Grund nicht entdecken.

In jener Zeit fand ein großes Hoffest statt. An dem Morgen dieses Tages kam die Anzeige, daß Arved sich mit der jungen weißblonden Dame verlobt habe. Die Nachricht traf sie wie ein Blitzstrahl.

Und wie sollte das Ereigniß in ihr Leben eingreifen!

Wehmüthig richteten sich Melanie’s Blicke nach dem Schreibtisch am Fenster, über dem die Bilder ihrer Eltern hingen: der Vater in grüner goldgestickter Galauniform, die Mutter im blauen Atlaskleid, die hellbraunen Haare in kleinen Lockenbüscheln an den Schläfen mit Seitenkämmchen festgesteckt.

Die Mutter war in den Tagen vor dem Fest leicht erkältet gewesen; der Brief an den Hofmarschall, der sie vom Fest abmelden sollte, hatte schon bereit gelegen. Nach Empfang der Verlobungs-Anzeige aber trieb sie der Gedanke, vor Allem die Dehors zu wahren, der Welt eine freundlich lächelnde Miene diesem Vorgange gegenüber zu zeigen, wieder in die Höhe. Sie erschien, der Etikette entsprechend, decolletirt auf dem Hoffest, bei welchem Melanie mit entfärbten lächelnden Lippen Arved gratulirte und er wie ein Fremder und doch befangen den Glückwunsch annahm. Sie konnten sich bei ihrer Heimkehr sagen, daß sie mit vollkommener Klugheit gehandelt hatten, und daß die Hofgesellschaft dieses anerkennen müsse.

Der Trost zeigte sich aber nicht stichhaltig, als die Mutter am andern Tag in Fieberphantasien lag, als sie nach jäh verlaufendem Nervenfieber die Augen für immer schloß. Der tief gebeugte Gatte erfüllte pünktlich alle Obliegenheiten bei dem pomphaften Begräbniß. Er kam mit einer Lungenentzündung von dem zugigen Friedhof nach Haus, siechte hin, und nach halbjähriger Krankenpflege drückte sie auch ihm die Augen zu.

Es war ihr immer befremdend gewesen, wenn er in der letzten Zeit so voll Trost des Stiftes gedacht hatte. Nach seinem Hinscheiden erst gingen dem unerfahrenen Mädchen die Augen auf. Der Sitte jener Zeit gemäß, welche Erörterungen in der Familie über die pecuniäre Lage für unstatthaft und unzart hielt, war ihr der Einblick in die Vermögensverhältnisse ihrer Eltern verhüllt geblieben. Jetzt erfuhr sie, daß sie arm war.

Nun wurde ihr auch Arved’s Handlungsweise klar. Ihr kluger gerechter Sinn sprach ihn frei, und daß sie dieses vermochte, erleichterte ihr Herz. Aber doch sagte sie sich, daß es edler von ihm gewesen wäre, wenn er ein offenes Wort der Aufklärung zu ihr gesprochen hätte, statt sich nach und nach wie ein kleinlicher Diplomat aus der Affaire zu ziehen. Sie würde, wenn auch mit Schmerz, doch ohne Bitterkeit zu seinem Besten Verzicht geleistet haben.

Sie siedelte nach dem Stift über. An dem Tage, da sie ihren Hausrath einpacken ließ zum Umzug in das stille Asyl, fuhr das junge Paar in eleganter Equipage Visiten.

In dem Stift, das angefüllt war mit unverheirathet gebliebenen Töchtern aus den adeligen Familien des Landes, fand sie viele Schicksalsgefährtinnen, die sich längst damit getröstet hatten, daß ihre Stellung ihnen den Frauenrang, anständiges Einkommen, hübsche Wohnungen gab. Kritisirende Gespräche über die Deputate an Fisch und Wild, vertrauliche Mittheilungen aus der Chronique scandaleuse der Residenz und die Lectüre des Adelslexikons füllten ihr Leben aus.

Es kam eine Zeit, in der Melanie mit der Bitterkeit rang. Aber sie hatte immer einen Zug nach oben im besten Sinne. So schloß sie sich hier an die Professoren an, und im Umgang mit den Männern der Wissenschaft bereicherte sich ihr Geist mit Interessen, die sie über das eng beschränkte Loos, das ihr gefallen war, hinaustrugen, und sie fand den Frieden der Resignation, in dem die Sehnsucht nach Glück endlich entschlummert.

Als dann die politische Umwälzung in Deutschland so viele früheren Verhältnisse und Voraussetzungen zu nichte machte, wurde auch Arved unter denen genannt, in deren Leben die Vorgänge entscheidend eingriffen. Das herzogliche Militär wurde preußisch, sein Vater pensionirt, er selbst, der in der Residenz sich angekauft hatte, in eine entfernte Garnison versetzt.

Vor ein paar Jahren, als sie aus dem Seebad zurückkam, war sie ihm wieder begegnet.

Sie harrte auf dem Bahnhof einer Stadt, die einen Knotenpunkt des deutschen Eisenbahnnetzes bildet, ihres Zuges. Da sah sie ihn stehen. Sie erkannte ihn sogleich, obwohl er sein Gesicht abgewendet hatte. So pflegte er immer den Kopf ein wenig nach der rechten Schulter zu neigen. Er war mit Handgepäck beladen. An seinem rechten Arm hing seine Frau, vier Töchter umringten ihn. Jetzt, da sie längst überwunden hatte, freute es sie, ihn wiederzusehen, und sie ging auf ihn zu. Aber da er sich nach ihr umwandte, blieb sie einen Augenblick zaudernd stehen. War der Mann mit dem nervösen verärgerten Gesicht, in welchem Mund und Nase zusammen und in die Höhe gezogen waren, als drückten ihn die Stiefeln, der hübsche elegante Arved?

Ja, er war’s. Mit einem bittren Lächeln, zu dem nur die eine Hälfte seines Gesichts sich verstand, begrüßte er sie und fragte, ob sie vielleicht das Mittel entdeckt habe, wie man immer jünger werde.

Auch seine Frau war verändert, die frischen Farben in eine allgemeine Röthe verwandelt und der harmlos sichere Ausdruck des auf dem Lande natürlich aufgewachsenen Mädchens in Kleinlichkeit untergegangen. Mit neidischem Blick verglich sie Melanie’s hellen Staubmantel, die langen seidenen Handschuhe mit ihrer eigenen verdrückten Toilette. Freilich war selbst die zierliche Zofe, welche Darling nachtrug, eleganter als Arved’s Töchter in ihren schlichten Perkalkleidern, denen selbst ihre hübschen Knixchen nicht den Anstrich der Spießbürgerlichkeit nehmen konnten.

Aber Melanie begriff ihre ehemalige glückliche Rivalin doch nicht. Was hätte sie darum gegeben, wenn sie die Jüngste, die mit denselben schwärmerischen blauen Augen sie ansah wie Arved dereinst, gleich hätte mitnehmen können!

Sie erfuhr, daß er „um die scharfe Majorsecke gegangen“ war, wie er sich ausdrückte, und nun, nachdem er den Abschied erhalten, in die alte Heimath zu ziehen gedachte. Er erkundigte sich nach dem Stift und sprach davon, daß er sich um eine Stelle daselbst für eine seiner Töchter bewerben wolle. Auch nach der in Greifenberg neu errichteten Selecta für Mädchen fragte er. Sie konnte zwischen den Worten lesen, daß sein Vermögen nicht so groß war, um ihn vor Sorge zu bewahren.

Endlich nahmen sie Abschied. Da sie ihm die Hand reichte, legte er die seine so schlaff hinein, daß sie einen leeren Handschuh

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 654. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_654.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2022)