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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Jetzt ist auch die Zeit der Jugendfreundschaften gekommen; es werden viel Gedichte gelesen, Tagebücher geführt und ewige Treue gelobt. Mutter und Großmutter aber sorgen, daß Waschen, Kochen und Plätten erlernt wird, und Großmutter spricht sogar vom Heirathen und erzählt von ihrer Jugendzeit, und wie der Großvater sie zuerst geküßt.

Eine Reise nach Arnstadt in Thüringen zu der Großmutter väterlicherseits ist ein Ereigniß. Das junge Mädchen hat „Goldelse“ gelesen, und nun promenirt sie stundenlang vor E. Marlitt’s Fenstern, ohne je die gefeierte Schriftstellerin zu erblicken; sie begegnet Willibald Alexis, der in seinem Rollstuhle an ihr vorübergefahren wird, und beginnt mit wahrer Begeisterung dessen vaterländische Romane zu lesen.

Im Jahre 1868 wird der Vater nach Glogau in Schlesien versetzt. Es ist ein schwerer Abschied von dem großelterlichen Hause, von den betrübten Freundinnen und der schönen, schönen Heimath.

In der kleinen Festung sieht sich die Familie sogleich in reges Gesellschaftstreiben hineingezogen. „Tanzen“ ist die Losung während der nächsten Jahre. Aber nun kommen ernstere Zeiten für das junge Mädchen. Vater und Bruder zogen mit in den Krieg nach Frankreich, und ein schweres Jahr mußte durchlebt werden, ehe die Sonne wieder heller strahlte. Beide kehrten glücklich heim, der Bruder, nunmehr Officier, stand ebenfalls in Glogau. Zwei Jahre blieb man dort noch beisammen, dann erfolgte die Versetzung nach Salzwedel in der Altmark; der Bruder ging nach Thorn.

Salzwedel, ein kleines Landstädtchen, machte auf das junge Mädchen zuerst einen trostlosen Eindruck; sie gesteht, sich in den ersten Monaten dort grenzenlos unglücklich gefühlt zu haben. Erst nach und nach lernte sie den stillen Zauber verstehen, der sich über die Mark breitet, über die weiten grünen Felder, die köstlichen Eichenwälder und über das kleine Städtchen mit dem schiefen Kirchthurm, den alterthümlichen Backsteinthoren und den alten Wällen und Mauern. Ruhig floß das Leben dahin, zumal am Krankenbette der Mutter. In jenen Stunden, da sie wachend im Nebenzimmer saß, ergriff das junge Mädchen zum erstenmale die Feder, und unter dem Weihnachtsbaum 1875 lag, anstatt einer langweiligen Kreuzsticharbeit, ein kleines beschriebenes Heft auf dem Platze des Vaters, betitelt: „Melanie, eine Novelle“.

Der gestrenge Papa soll sich sehr darüber gefreut haben. Er ließ es auch nicht fehlen an Aufmunterung zum Weiterarbeiten und sandte jenen ersten Versuch einer Zeitschrift zu, allerdings unter dem Protest der jungen Autorin. „Paß auf,“ behauptete sie, „man wird schreiben: stricken Sie lieber Strümpfe!“

Aber sie irrte sich; die Novelle wurde freundlich aufgenommen und erschien in der „Victoria“ bei Franz Ebhardt, der das große Talent sofort erkannt hatte.

Im Herbste desselben Jahres erkrankte das junge Mädchen schwer; noch in der Reconvalescenz schrieb sie das Buch, welches bestimmt war, sie in die Gunst des Publicums einzuführen und in allen Kreisen beliebt zu machen: „Aus dem Leben meiner alten Freundin“.

Der Vater schickte das Manuscript zuerst an die „Gartenlaube“. Es kam aber als nicht geeignet für ein Blatt, welches von acht zu acht Tagen erscheine, wieder zurück und wurde nun im Feuilleton der „Magdeburger Zeitung“ abgedruckt, später als Buch im Verlage von A. u. R. Faber. Die einfache Erzählung machte gradezu Aufsehen, und eines Tages erhielt die beglückte Verfasserin einen Brief von Ernst Keil, worin er ihr schrieb, daß er leider – damals zur Cur in Karlsbad – die reizende Erzählung nicht selbst gelesen, er würde sie sonst nie aus der Hand gelassen haben; daß er tief davon ergriffen sei und die Autorin ein für allemal bitte, Mitarbeiterin an der „Gartenlaube“ zu werden! Er nannte „die alte Freundin“ ein Buch voll süßberauschenden Reizes, voll stimmungsvoller Wehmuth, und fügte hinzu: „das darf Ihnen der Mann sagen, der Tausende von Manuscripten, und darunter manches Vortreffliche gelesen und der morgen die letzte Nummer des ersten Vierteljahrhunderts seiner Zeitschrift zusammenstellt!“ –

„Das war die schönste Stunde meines Lebens!“ sagte Wilhelmine Heimburg, als sie den Brief gelesen. Leider ist es ihr nicht vergönnt gewesen, Ernst Keil von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen.

So aufgemuntert schrieb sie in den folgenden Jahren die Erzählungen: „Lumpenmüllers Lieschen“, „Kloster Wendhusen“, “Ihr einziger Bruder“. Dazwischen jene kleinen stimmungsvollen Novellen, die in einem Bande vereinigt als „Waldblumen“ erschienen sind.

Im Jahre 1879 lernte sie Theodor Storm kennen, für den sie seit langer Zeit eine verehrungsvolle Schwärmerei hegte.

Die Mutter, Schwägerin und sie wollten nach Wyk ins Seebad reisen, mußten aber in Husum übernachten, weil das Dampfboot erst am andern Mittag abging. Verschiedentlich lenkte das junge Mädchen ihre Schritte in die enge Gasse, wo das Haus des Dichters stand, aber vor Herzklopfen vermochte sie nicht einzutreten; sie kam immer wieder unverrichteter Sache in das Hotel zurück und fuhr auch richtig ab, ohne Storm gesehen zu haben. Auf der Ueberfahrt nach Wyk lernte sie eine Verwandte des Dichters kennen und diese vermittelte eine Unterredung mit dem gefeierten Autor. Er nahm die junge Schriftstellerin sehr freundlich auf. Eine Erinnerung, auf die W. Heimburg stolz ist; und sorgsam wird der Brief des Dichters aufbewahrt, in dem er sich lobend über „Die alte Freundin“ ausspricht.

Im Jahre 1880 wurde der Vater nach Frankfurt am Main versetzt. Von dem stillen Salzwedel wurde ihr der Abschied schwerer, als sie es für möglich gehalten. Der Dichterin wollte es überdies in Frankfurt nicht behagen. Während der kurzen Zeit ihres dortigen Aufenthaltes flüchtete sie aus der „überheizten“ Atmosphäre, wie sie die Frankfurter Luft nannte, in die Schweiz oder an den Rhein. Die große Stadt mit ihrem hundertfältigen Lärm und Trubel lähmte sie völlig, Arbeiten am Schreibtisch schien ihr unmöglich; wie konnte ihr die nöthige innere und äußere Ruhe kommen in jenem Menschengewirr und gesellschaftlichen Treiben, bei den Spaziergängen auf überfüllten Promenaden!

Bald siedelte die Familie nach Arnstadt über, wo Verwandte derselben leben. Aber hier gefiel es beiden Eltern durchaus nicht. So kam man auf den Gedanken, es mit Dresdens Umgebung zu versuchen, mit Kötzschenbroda, wo die Großstadt und ihre Genüsse sich mit der Stille des Landlebens einen. In Kößschenbroda schrieb sie ihre reizende Erzählung „Ein armes Mädchen“, welche ebenfalls in der „Gartenlaube“ erschien und ihren Ruf als liebenswürdige und fesselnde Erzählerin noch fester gründete.

Möge die Feder W. Heimburg’s uns noch viele jener Erzählungen bringen, die nichts anderes scheinen wollen, als was sie sind: einfache Herzensgeschichten, voll echter Weiblichkeit und ursprünglichen Zaubers, fern von jeder Launenhaftigkeit und Excentricität. Wir werden ihr gern und willig folgen. B. R.     



Vom Herd der Seuche.[1]

Schon lange wußte man, daß der Feind verkappt durch die Provinzen schlich, aber wie um ihn zu versöhnen, gab man ihm gute Worte, nannte ihn mit freundlicheren Namen wie Gastritis, Kolik, Cholerine.

Wir Badegäste von Spezia und seinen Umgebungen zählten staunend die Quarantäneschiffe aus Marseille und Toulon, die seit Juni zu vielen Dutzenden in unseren Golf einliefen und gegen die die Bürgerschaft von Spezia vergebens demonstrirt hatte. Hier und da verlautete schon von einem Todesfall, aber die Kunde wurde immer schleunigst dementirt. Freilich, wenn man sich alsdann an Ort und Stelle begab, konnte man ein Haus von Militär umstellt sehen und erfahren, daß seine sämmtlichen Bewohner als choleraverdächtig in die Festung abgeführt seien, aber der Kranke war nichts destoweniger an einer Indigestion oder an den Folgen der Trunksucht gestorben. Einen Einwohner von Spezia nach der Cholera fragen, hieß ihn geradezu beleidigen. Die Bürgerschaft, die für dieses Jahr die Fremdensaison ruinirt sah, aber doch noch immer auf einen Aufschwung hoffte, wetteiferte mit den Behörden im Vertuschen. Doch ließ man es nicht an Vorkehrungen fehlen, das Carbol floß buchstäblich in den Gassen, und im Uebereifer riß man das alte Pflaster auf, eine Maßregel, die vielleicht den schweren Ausbruch vom 22. August befördern half. Auch unser kleines San Terenzo wollte das Seinige thun und zündete jeden Abend große Feuer an, von denen sich ein dichter mit Desinfectionsstoffen geschwängerter Rauch halbe Stunden lang beklemmend über die Ortschaft lagerte.

Für uns Badegäste war die Cholera zunächst nur ein pikanter Unterhaltungsstoff, der dem Müßiggang des Landlebens Würze gab. Man tanzte, als stehe der Weltuntergang vor der Thür. Feste wurden veranstaltet,

  1. Wir verdanken diese interessante und charakteristische Schilderung der Cholerapanik in Italien einer Freundin unseres Blattes, welche sich während dieses Sommers in Italien aufhielt und den Ausbruch der Seuche in dem Badeorte Spezia und dessen Umgebung miterlebte. D. Red.     
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 650. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_650.jpg&oldid=- (Version vom 1.12.2022)