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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Die Kalmücken.

Mit Illustrationen von Rob. Haug.

Kalmücken auf der Pferdejagd.

In den größeren Städten Europas ist jetzt eine aus drei Familien bestehende Kalmückenhorde zu sehen, und es wird daher den Leser interessiren, Näheres über dieses eigenthümliche Volk zu vernehmen, das in den weiten Steppen des europäischen Rußlands und Westsibiriens noch ein echtes Nomadenleben führt.

Vergebens späht das Auge in der Heimath dieses mongolischen Stammes nach Städten oder Dörfern. Unausgesetztes Wandern ist das vornehmste Lebensbedürfniß des Nomaden, und so errichtet er auf den Weidegründen, welche er besucht, nur flüchtige Lager, die rasch an einen andern Ort hinübergeschafft werden können. Hier bildet das leichte Zelt, Jurte genannt, das Haus des Kalmücken, welches in seiner äußeren Gestalt und inneren Einrichtung höchst einfach erscheint. Betten aus Filzdecken, einige Packsäcke, welche die bewegliche Habe der Familie bergen, die Utensilien des Hausherrn, wie Sattel, Reitzeug und Luntenflinte, daneben die dürftigen Küchengeräthe und in der Mitte die Feuerstelle mit allen ihren Annehmlichkeiten und Fatalitäten, das ist das gewöhnliche Bild des Innern der Jurte, welche nur durch einige an den Dachstangen aufgehängte Götzenbilder geschmückt wird.

Reich und Arm begnügt sich mit dieser Einrichtung; nur hat der Reiche größere Kessel und mehr Säcke. Der Inhalt der Letzteren besteht bei den Wohlhabenderen aus Zeugen, Fellen und Kleidungsstücken, bei den Armen meist nur aus Schafwolle und abgetragenen Lumpen. Allenthalben herrscht Unreinlichkeit und Unordnung; diese elenden Wohnungen schützen weder im Sommer vor Regen oder Wind, noch halten sie im Winter die Kälte ab; dennoch bewohnt der Kalmück seine Jurte in jeder Jahreszeit. Im Winter schüttet er Erde rings um dieselbe und legt an schadhaften Stellen des Daches neue Filzdecken auf. Trotz des ununterbrochen brennenden Feuers müssen sich die Bewohner doch noch in Pelze hüllen, um nicht zu frieren.

Die Kleidung der Kalmücken ist äußerlich so gleichmäßig wie ihre Wohnungen, und es wäre schwer Arm und Reich an den Kleidern zu unterscheiden. Freunde der menschlichen Gleichheit müßten sich in diesem Punkte wenigstens unter den Kalmücken außerordentlich befriedigt fühlen, denn kaum dürfte der Fall vorkommen, daß Einer „berstet vor Neid“ über die reichere Gewandung seines mehr begüterten Nachbars. Im allgemeinen tragen Alle ihre Kleidung, bis sie ihnen vom Leibe fällt; es hat also nur der ein stattliches Aussehen, welcher zufällig ein neues Kleid besitzt. Die Kinder laufen gar bis zum siebenten Jahre nackt einher; nur bei Kälte werden ihnen Schafpelze umgeworfen und Filzstrümpfe angezogen. Als Kopfbedeckung dient den Kalmücken eine schwarze Lammfellmütze, welche von den verheiratheten Frauen nlemals abgenommen wird. Die Männer scheeren sich den Kopf bis auf eine kleine kreisrunde Stelle auf dem Scheitel, an der sie einen Zopf mit einem langen Zopfbehange und einer Quaste daran tragen. Frauen und Mädchen lieben die auch bei den Kaisaken üblichen Haarverzierungen, falsche Flechten aus Roßhaar. Die Männer gehen bei großer Hitze mit nacktem Oberkörper, die Frauen aber erscheinen stets bekleidet. Unterschiede zwischen Sommer- und Winterkleidung sind unbekannt. Im Gürtel führt der Kalmück einen Feuerstahl mit Schwammtasche nebst Messer, in den Stiefeln Pfeife und Tabaksbeutel.

Die Pfeife spielt eine große Rolle im Leben der Kalmücken; allgemeiner als bei ihnen ist das Tabakrauchen wohl nirgends verbreitet. Frauen und Kinder rauchen, ja die Mutter steckt sogar dem Säugling die Pfeife in den Mund. Kommt Besuch in die Jurte, so sind sämmtliche Anwesende alsbald beschäftigt, in tiefem Stillschweigen die Pfeife aus dem Stiefel hervorzuholen, zu stopfen und anzuzünden. Darauf beginnt ein allgemeines Ueberreichen der Pfeifen mit der gewöhnlichen Begrüßungsformel: „Nä tabysch bar?“ (was giebt’s Schlechtes?), worauf die stehende Antwort: „Tabysch jogula“ (Nichts) lautet.

Eine Weile hört man nichts als diese Worte, denn ein Jeder ist damit beschäftigt, die Pfeife des Andern auszurauchen und neu zu stopfen. Im Uebrigen behält bei solchen Zusammenkünften der „Kumys“, der aus gegohrener Stutenmilch bereitete Branntwein, das letzte Wort. Man trinkt, solange nur ein Tropfen von dem edlen Saft vorhanden ist; zuletzt sinkt Einer nach dem Andern auf der Stelle um, wo er sich gerade befindet, und Diejenigen, die nicht abgefallen sind, machen durch Geplauder einen schrecklichen Lärm. Nur die jungen Weiber und Kinder bleiben nüchtern, denn Frauen, die keine erwachsenen Kinder haben, dürfen sich, nach kalmückischen Begriffen von gutem Tone, nicht betrinken.

Die Kalmücken sind meistens mittelgroß, aber untersetzt und breitschulterig; ihre Gesichtszüge tragen den mongolischen Typus, etwas schiefliegende Augen, breite Backenknochen, nach hinten liegende Stirn und sehr flache Nase. Die Gesichtsfarbe ist nicht leicht zu beurtheilen, da der immerwährende Rauch der Jurte gelbbraun färbt und der Kalmück sich außerdem nur selten wäscht, daher auf der Haut ein dunkler Ueberzug entsteht, der nichts von der Hautfarbe erkennen läßt. Obwohl sie grundhäßlich sind, liegt in ihren Gesichtern doch ein kindlich gutmüthiger Zug, der Jedem Vertrauen einflößen muß und in der That durch ihr Benehmen nicht Lügen gestraft wird. Zu Fuß außerordentlich schwerfällig, wozu seine lange, dicke Pelzkleidung und der schleppende Gang nicht wenig beitragen, ist der Kalmück ein gewandter unerschrockener Reiter sowohl zu Pferd als zu Kameel, welch letzteren Thieres er sich hauptsächlich als Lastthieres bedient, wenn er seine Jurten abbricht, um einen anderen Lagerplatz aufzusuchen. Unsere Schlußvignette zeigt solche auf der Wanderung begriffene Kalmücken. Die Pferde wissen sie sehr geschickt mit einer Art Lasso einzufangen, und auch diese Operation führen wir im nebenstehenden Bilde vor. Merkwürdig ist, daß die Kalmücken sich nicht zu größeren Vereinigungen vergesellschaften, sondern meistens auf die eigene Familie beschränkt bleiben. Mit seinem nächsten Nachbar fühlt sich der Kalmück Eins, aber schon seine Stammesgenossen in weiterer Entfernung sind ihm Fremde; besitzt er doch nicht einmal einen Namen für sein Volk, denn Kalmück oder Tatar ist ihm von den Russen überkommen, und er wendet diese Benennung nur an, um sich vom Russen zu unterscheiden. Gewöhnlich aber nennt er sich blos nach dem Flusse, an dem er lebt, z. B. Tschuj-Kischi, das heißt Tschuja-Mensch. In der Nähe der Flüsse liegen nun in der Regel drei bis vier Kalmückenjurten im Gebüsche derart verborgen, daß man ihrer kaum gewahr wird.

Mehr noch als andere Nomadenvölker ist der Kalmück ein Nichtsthuer, der all des Lebens Müh’ und Plage den Weibern aufhalst, während er selbst in Essen, Trinken, Rauchen und Schlafen seine Zeit verbringt. Wenn wir von den Wolgakalmücken wissen, daß sie ihre Frauen mit einer seltenen Achtung behandeln, so hat dies auf den kalmückischen Tagedieb des Altai keinen Bezug. Nir im Herbste hängt er die Flinte um und streift mehrere Wochen auf Schneeschuhen im Gebirge umher, um die für die Steuern nöthigen Felle zu beschaffen. Im Sommer besucht er seine Freunde und Bekannte und labt sich am edlen Kumys. Man kann als gewiß annehmen, daß während des Sommers fast die ganze Bevölkerung des Altai nur selten nüchtern wird. Seiner Meinung nach führt indeß der Kalmück ein herrliches Leben und hat von seinem Standpunkte aus vollkommen Recht, denn keine Sorge drückt ihn und kein Wunsch nach irgend einer Veränderung steigt in ihm auf. Hat er keine Kleidung oder keine Speise, so erhält er sie vom reicheren Nachbar, denn sämmtliche Bewohner einer Gegend bilden ja gleichsam eine Familie, und der Reiche ist nur reich, um alle ihn umgebenden ärmeren Faulenzer mitzufüttern. Dieser im höchsten Grade ausgebildete Communismus ist besonders bei jenen Kalmücken im Schwange, die sich noch am meisten in dem sogenannten „Naturzustand“ befinden; der Kalmück dieser Gesittungsstufe stiehlt nicht, weil er keine Bedürfnisse hat, kennt weder Lug noch Trug, weil es in seinen Bergen nichts zu verheimlichen giebt und er viel zu träge ist, sich zu verstellen.

Ueber ihre Gottheit selbst haben die Kalmücken nur eine ganz unklare Vorstellung; nach ihrer Angabe giebt es zwei Hauptgottheiten, eine gute, den „Uelgän“, von manchen „Tengri Chan“ (Himmelsfürst) oder „Pajana“ genannt, und eine böse Gottheit „Erlik“, „Kösmös“ oder „Schaitan“. Diese Namen sind den Nachbarvölkern entlehnt, Erlik den Mongolen, Schaitan den mohammedanischen Turkstämmen; auch verehren sie Berge und Flüsse als Herren des sie ernährenden Landes, endlich die Seelen der Vorfahren.

Im Allgemeinen kümmert sich das Volk wenig um diese überirdischen Wesen, und ihr ganzer Cultus besteht darin, daß man in jeder Jurte eine

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_644.jpg&oldid=- (Version vom 15.12.2020)