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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Nahrung in Weiden- und sonstigem Gestrüpp, und während zur Sommerszeit das Auge unstet über diese Oeden schweift, vergeblich einen Ruhepunkt suchend, sieht man an Winterabenden die Hünengestalten der Elche in ihrem Thun und Treiben über das Moor zerstreut, vermischt mit zahlreichen graziösen Rehen als lieblichen Gegensatz.

Wie anders dagegen zeigen sich Wald und Werder in ihrem grünem frischen Sommergewande, wie singt, flötet, pfeift, kreischt und quarrt es bunt durch einander vom grünen Zweig, von der blauen Woge, aus dem dichten Schilf- und Binsenwuchs der Sümpfe! Der Wanderfalk schießt wie ein Pfeil durch die sonnige Luft, der See-Adler zieht majestätisch seinem Horst zu, die Weihen schaukeln sich über dem Rohr in verderblicher Absicht Nester zu plündern; die Kraniche trompeten und rennen spielend durch einander, und die jungen Uhus dort im Erlenbruch kreischen nach Fraß. Aus dem dichten Grase ertönt ein minutenlang anhaltender schwirrender Ton, oft von verschiedenen Stellen her; man könnte ihn für das Geigen von Grillen halten, und doch klingt es viel weicher und schöner; es sind Heuschreckensänger oder Schwirrer, kleine niedliche Vögelchen, welche mit diesem Trillern in das große Freudenconcert von tausend und aber tausend Kehlen einstimmen. Ueber den Werdern kreischen zahllose Möven und Seeschwalben und flattern ängstlich über unserem Kahn, der sich in dem Gewirr von Millionen weißer und gelber Nymphäen, die hier in wunderbarer Größe und Schönheit prangen, festgefahren hat; auf ihren großen Blättern stehen paarweise die kaum flüggen Jungen der besorgten Schreier über uns und sehen ungeduldig den Fischchen entgegen, welche die Alten ihnen zutragen wollen, woran sie aber durch unser Zögern verhindert werden.

Kurisches Fischerhaus.

Wir schieben den Kahn leise an das Ufer und schleichen so still, als Wasser und Schilf dies gestatten, in den Werder hinein; mein Begleiter bleibt stehen und deutet dorthin: richtig, da steht der starke Elchhirsch, dessen Geweih im Bast wie zackige Keulen aussieht, und mustert uns mit seinem melancholisch-trägen Auge; ist es Dummheit, Trägheit oder, wie beim Keiler, trotzendes Kraftgefühl, was ihn die Flucht vor seinem Erzfeinde vergessen läßt? Nur Kopf und Hals sind vor dem kolossalen Schilf- und Graswuchs zu sehen; endlich wendet er sich langsam um, bleibt aber nach einigen Schritten nochmals gaffend stehen – thörichter Recke, wie leicht bist du zu fällen!

Nur das Jägergefühl, dich erlegt zu haben, kann zur Jagd auf dich reizen! Nun bricht und plätschert es laut durch Rohr und Schilf: es ist ein Trupp Elche, der hier gelagert hat, und das leise Schleichen in unserer Nähe bedeutet uns, daß ein Reh es vorzieht, sich unserer bedenklichen Nähe zu entziehen; in dem hohen Graswuchse ist es sicher, weil unsichtbar. Schwärme von Wildenten, Strandvögeln, Kiebitzen hasten umher – überall frisches, pulsirendes Leben! Die Luft ist sonnig und wolkenlos, und doch segeln dort Wölkchen so fein wie Duft und Nebel mit Windeseile hin! Dem Laien schwer erklärlich; das eine bleibt plötzlich stehen, verändert seine Gestalt, verdichtet sich, zerstreut sich wieder und segelt weiter: es sind Staare, die dem Nachtquartier im Rohr zustreben; den einen Flug hatte ein Falke angegriffen, daher die Verdichtung durch das Zusammendrängen der Vögel und das wilde Auseinander- und Vorwärtsstieben nach dessen Entfernung.

In dichten Massen von Tausenden fallen sie in das Rohr ein, welches unter ihrer Last sich beugt und bricht; unter betäubendem Lärm drängen, stoßen und necken sie sich unter einander; jeder neu angekommene Schwarm wird mit ungeheuerem Jubel bewillkommnet und erst die hereinbrechende Nacht macht dem Höllenspectakel ein Ende. Wer glaubt im Binnenlande, daß unser lieber Staarmatz wirklich verderblich sein könne? In der That ist er es dort, denn er macht stellenweise die Rohr-Ernte ganz illusorisch, indem die vielen tausend Mätze, während sie sich niederlassen, die Stengel brechen. – Draußen auf dem Kurischen Haff sind zahlreiche Fischerboote in vollster Thätigkeit und jener helle Höhenzug, der wie ein leichtes Gewölk aussieht, ist die Kurische Nehrung; dort liegt auch Schwarzort, ein neu aufgethanes Seebad, welches in diesem Jahre schon einige zwanzig wirkliche Badegäste gehabt haben soll; interessanter aber als durch diese, ist es durch seine großartige Bernsteinbaggerei.

Wir rudern in den Skirwithstrom hinein, auch hier eigenartiges Leben! Jener schwerfällig herausegelnde Kahn voll von Menschen, Vieh und Hausgeräth, eine wahrhaftige Arche Noah, bringt seine Insassen heim vom Markt in Heydekrug, und dieses kolossale Gefährt, zwei an einander gebundene, hoch mit Heu beladene Kähne, wird nur von Weibern gehandhabt, die den Männern hier in keiner Arbeit nachstehen; sie unterhalten sich laut mit den Insassen der Arche Noah und scheinen Bemerkungen zu machen über die weihevollen Passagiere jenes Kahns, welche einer frommen Betversammlung zusteuern.

Jenes Pferd dort im Kahn, welches uns mit seinen munteren Augen so aufmerksam mustert, wird von einem Weibe von der Weide heim gerudert, da es auf einem anderen Wege nicht nach Hause gelangen kann; es geht hier eben Alles zu Wasser, in Freud und Leid, Jung und Alt, Mensch und Vieh. Soweit man sieht: Wasser und Wiesen mit zahlreichen Viehheerden, gegen welche die kleinen Ackerfelder fast verschwinden. Vor allen Häusern Kähne und Fischernetze als Wahrzeichen des vorherrschende Gewerbes; wie eigenthümlich ist die Giebelverzierung dieser lithauischen Fischerhäuser! Nirgends werden die beiden Pferdeköpfe mit den darauf stehenden Vögeln fehlen, und wo man sie vermißt, da hat sich wohl Einer angebaut, der sich mehr dünkt, ein Moderner, dem dieses alte Wahrzeichen zu bäuerisch erscheint.

Aus jenem Hause dringt der Rauch aus Thüren und Fenstern, denn es hat keinen Schornstein; es ist ein sogenanntes Rauchhaus, dessen Bewohner auf die Wohlthat eines rauchabführenden Schlots im Interesse ihrer Fischernetze verzichten, welche durch die Räucherung an Haltbarkeit gewinnen. Aus diesen Rauchhäusern rührt auch wohl das Gerücht her, daß in gewissen Dörfern die Leichen geräuchert würden, wenn Wind und Wetter, oder Frost und Schnee ihre Beerdigung nicht zuließen!

Es ist eigenartig schön auf diesem Stück Erde, und trotz der zahllosen Bremsen und Stechmücken trennt man sich nur ungern von dem Forste an der Kurischen Nehrung.

O. v. Riesenthal.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 627. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_627.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)