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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

der heimkehrende Athener die goldne Lanzenspitze der ehernen Athene des Pheidias, die hoch auf der Akropolis Wacht hielt.“ Helios’ Fackel sank glühend hinab. Ueber den Bergen von Aegina flammte das Abendroth, wie feurige Wolken zuerst, dann in raschem Wandel in die leuchtenden veilchenblauen Farbentöne übergehend, die jener Landschaft eigen sind. Blaue und rothe Lichter, bald tief dunkel, bald hell strahlend, spielten aus dem Meer, aus dem silbern schimmernde Delphine auftauchten. Er hatte den Hut abgenommen; der weiche Hauch dieser Luft, der schon heilbringend sein sollte, spielte in seinem langen grauen Haar, und mit verklärtem Antlitz fuhr er fort: „Da, der rothe Fels ist Salamis, das dunkelblaue Meer, aus dem er emporsteigt, die Stätte, wo vor zwei Jahrtausenden die große Seeschlacht gekämpft wurde. Und dort,“ fügte er mit stockendem Athem, flüsternd, wie beim Anblick eines Allerheiligsten hinzu, „dort taucht die Akropolis auf.“

Die hochgehenden Wogen der Empfindung hielten zwar nicht Stand, als der „Schild“ im Piräus zwischen Schiffen aller Nationen Anker warf und sie den classischen Boden betraten. Die Neugriechen in ihren Fustanellen, den weißen weiten Faltenröcken, den Gamaschen und unförmlichen Schnabelschuhen führten deutlich vor Augen, daß ein neues Volk die alte Culturstätte bewohnte. Selbst Athen war eine moderne, fast abendländische Stadt, wenn auch die Straße, in der sie ihr Logis fanden, nach dem Götterboten Hermes und diejenige, in welcher ihre Buchhandlung lag, nach dem Windgott Aeolus genannt war, und wenn auch die Conditorei, in der sie den berühmten Honig von dem mit Thymian bedeckten Hymettosgebirge naschten, den Namen des großen Gesetzgebers Solon trug.

Aber die Welt von heut versank für sie, wenn sie an mondhellen Abenden droben auf der stillen Akropolis weilten. Der Invalide, den sie als Führer mitnehmen mußten, blieb, zufrieden seine Drachmen einstreichend, zurück. Sie wandelten allein durch die Ruinen im bläulichen Licht der strahlenden Selene, die so groß erschien, als sei sie die erwachsene Schwester unseres kleinen deutschen Mondes. Wie ein aus dem Hades emporgestiegener Geist der Griechen fand der blasse Gelehrte seinen Weg durch die stolzen Propyläen und über das marmorne Trümmerfeld. Mit beflügeltem Wort ließ er die alte Herrlichkeit wieder erstehen: den zierlichen ionischen Säulenbau des Erechtheion, in dem dereinst das älteste aus Oelbaumholz geschnitzte Bild der Athene aufbewahrt wurde, und den Parthenon mit seinen ernsten dorischen Säulen, welcher zu Ehren der Athene Parthenos erbaut war und jene herrliche Statue der Göttin enthielt, die Pheidias aus Gold und Elfenbein gebildet hatte; das alte veilchenumkränzte Athen erhob sich wieder am Fuße der Akropolis. Der ausgegrabene Rundbau des Dionysostheaters wuchs empor, und auf marmornen Sitzen saßen die Athener und schauten die Tragödien des Sophokles und Euripides. Die feierlichen Klänge der Kithara, die Apollo spielte, ließ er im Geist ertönen und das schmeichelnde Flötenspiel säuseln, mit dem die leichtgeschürzten Töchter des benachbarten Ioniens die athenischen Männer zu berücken wußten.

Es war ein herrliches, genußvolles Leben. Aber wie alle Sterblichen wandelten auch sie nur kurze Zeit frei von Unheil.

Es kam ein sonnenklarer Tag, an dem sie wieder einmal zur Burg emporstiegen. Der Vater war schweigsamer denn sonst, und auf ihrem Herzen lag ein Druck, auf ihrem Geist ein Schatten, den sie nicht mit Namen nennen konnte. Sie suchte die Ursache in äußeren Dingen. Sie standen vor der einstigen Cella der Athene Parthenos. Jetzt ragte darin das halb abgetragene Minaret empor, das von den mohammedanischen Siegern aufgeführt worden war. Sie brach in leidenschaftliche Klagen aus über die Barbaren, welche die Statue verschleppt und vernichtet hatten, daß nichts davon übrig geblieben war als die kleine Copie, die sie im Cultusministerium immer auf’s Neue bewunderte.

Aber ihr Vater schüttelte ernst das Haupt: „Das Götterbild ist vernichtet; wir bedauern es, müssen aber bedenken: je reiner die Gottesidee sich entfaltet, je mehr wird sie die Formen und Symbole abstreifen. Laß uns noch einmal in den Giebel hinaufsteigen.“

Mit sicheren Schritten ging er den schwindelnden Weg und ließ sich dann droben auf einem der riesigen Marmorarchitraven nieder. Sein Blick glitt hinaus über den Spiegel der See bis zu den zackigen Bergen des Isthmus, die Akrokorinth beherrscht – eine Ruine gleich der Akropolis, hinab auf den Burghof, der ehemals von herrlichen Marmorbildern und Bauwerken erfüllt gewesen war, und in welchem jetzt, über einander gestürzt, in stachelige Aloen eingebettet, Säulentrommelnt und Capitäle, Metopentafeln und Stücke von Friesen und Statuen lagen, die, von der Zeit bronzirt, nur am frischen Bruch noch weiß glänzten.

Da sprach er leise: „Selbst das herrliche Volk, das eine Blüthezeit sah wie kein anderes, mußte vergehen. Menschenloos! Wie dürfte der Einzelne hoffen, seinem Geschick zu entrinnen?“

Sie sah ihn erschrocken, nach Verständniß suchend, an. Aber auf seinem Antlitz lag das Leuchten der stillen Ergebung, die sich jedem Gebot der Götter fügt. Dann stützte er sich auf ihren Arm und stieg langsam hinab. –

Nur mit geschlossenen Augen zog er noch einmal an der zusammengesunkenen Herrlichkeit vorüber, als er, der Sitte des Landes gemäß, im offnen Sarg hinausgetragen wurde zur letzten Ruhestätte.

Sie konnte sich nicht so schnell vom Grabe ihres Vaters trennen und auch nicht von den Orten, wo sie noch einmal mit ihm eine so glückliche Zeit verlebt hatte. Eine befreundete Familie, Verehrer ihres Vaters, nahm sich ihrer an und half ihr im Ordnen der äußeren Angelegenheiten. Ein bekannter Forscher erbat sich das Material zu einem Nekrolog des berühmten Gelehrten. Sie mußte den Nachlaß des Verstorbenen durchsehen. Und wie aus den Schriften das schöne Gleichmaß seiner Seele zu ihr sprach, so wehte es wie ein Hauch von Trost in ihr Herz, wenn sie in den Trümmern des Tempels der erhabenen Schutzpatronin ihres Vaters weilte. Es war, als ob zwei hehre Stimmen, harmonisch zusammenklingend, einander ergänzend, sie zur Ruhe redeten. Aus dem heißen Schmerz wurde wehmüthige Sehnsucht nach dem Geschiedenen, dann ein stilles Gedenken, ein Weiterleben in seiner Geisteswelt.

So war es gekommen, daß sie mit dem hinsterbenden Vater sich in die Geschichte der alten Griechen versenkte, während in Deutschland unter Kriegsdonner die neue Zeit anbrach; so kam es, daß sie, mit dem ersten großen Schmerze ihres Lebens ringend, die Botschaften von der frechen Einmischung des Erbfeindes, der einmüthigen Erhebung ihres Volkes, dem Siegeslaufe des deutschen Heeres und dem ruhmvollen Friedensschluß nur wie leeren Schall an ihrem Ohre vorüber gehen ließ. Und doch war ein Nachhall aus jener Zeit mächtig genug, sie in die Heimath zurückzuführen.

Als sich ein Jahresring nach ihres Vaters Tode geschlossen hatte, kehrte sie einstmals von einem Spaziergange in den Schloßgarten zurück, den die frühere Königin Amalie angelegt hat. Der Gesang der Nachtigallen, die hier unter Orangenbäumen und Palmen schlugen, tönte ihr nach. Da hörte sie vor dem Schlosse die griechische Militärkapelle eine Weise spielen, die frisch und muthig klang wie das Volkslied ihrer waldigen Heimath. Sie vermochte kaum durch die Menge von fremden Reisenden, Griechen in der Nationaltracht, Griechinnen in fränkischer Kleidung, mit dem Fez auf dem rabenschwarzen Haare, zu dringen. Alle lauschten neugierig dem Musikstücke. Da sie, wunderbar angeheimelt, stehen blieb, sprach der neben ihr schreitende Landsmann: „Es ist die ‚Wacht am Rhein‘, die ihre Siegesreise um die Welt macht.“

Da kam das Heimweh, das sie bisher nie gekannt hatte, mit Macht über sie und überwältigte sie so, daß sie urplötzlich in stürmischer Hast zur Rückkehr rüstete.

Auf dem „Schild“, der sie gebracht, fuhr sie eines Abends mit dem alten Diener wieder davon, und das Land der Griechen versank hinter ihr in Nacht und Fluth. Am andern Morgen lag das große Dampfschiff im Hafen von Syra vor ihr, das sie in die Heimath zurückführen sollte. Hell glänzte sein Name im Morgenlicht. „Mars“ ward es genannt.

Nun befand sie sich schon ein paar Wochen wieder daheim; aber heimisch war es ihr noch nicht geworden. In ihrem kühlen Hause am Universitätsplatze stand zwar Alles unverrückt auf derselben Stelle. Die alte Verwandte ihres Vaters, eines jung verstorbenen Privatdocenten würdige Wittwe, führte wie in früherer Zeit die Wirthschaft.

Aber außerhalb desselben fand sie sich in einer ihr neuen fremden Welt. Zwischen den Studenten klirrten Ulanen; denn Greifenberg hatte eine Garnison bekommen. Die Krieger schauten mit kecken Blicken um sich. Hatte doch der Eine sich unterstanden, sie, Ereme Clusius, schon von Weitem mit den Augen zu fassen

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