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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 37.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


„Fanfaro.“
Novelle von Stefanie Keyser.


War es wirklich ihre Heimath?

Wenn sie das Stückchen Erde so nennen mußte, wo sie geboren und erzogen wurde, wo sie jeden Winkel kannte und jede Eigenthümlichkeit seiner Bewohner, – ja, dann war die Landschaft, die sich vor ihr ausbreitete, ihre Heimath. Sie kannte den grünen Eichenwald, unter dessen letzten Ausläufern sie stand; er überzog die langgestreckten Berge, welche den deutschen Kleinstaat begrenzten, dem sie als Bürgerin angehörte. Sie kannte die Wiese drunten und die mit starken Rindern bespannten Wagen, auf die das erste Heu geladen wurde, den Fluß, der murmelnd zwischen seinen kiesigem Ufern dahinströmte, und den an seiner Kette darauf schaukelnden Kahn, der Lustwandelnde übersetzte. Und sie kannte die Stadt Greifenberg, welche am jenseitigen Ufer sich hinzog.

Dennoch ging ihr bei dem Anblick und bei dem Wort „Heimath“ nicht das Herz auf. Sie war fremd geworden in dem halben Decennium, das sie fern dem Vaterlande verlebt hatte, vereinsamt, wie es ihr Name: Ereme (griechisch: die Einsame) besagte, und wie es ihr Schicksal hinfort sein würde.

Ein leiser Seufzer kam über ihre Lippen, während sie den Blick auf der Stadt ruhen ließ, die, wenn auch äußerlich gewachsen, doch ihren nun verwöhnten Augen noch schlichter als sonst erschien. In der gesteinarmen, aber waldreichen Gegend errichtete man keine Prachtbauten. Selbst wo ein mit einer Haube gezierter Thurm die Kirche bezeichnete, bildeten die darum gepflanzten Linden den Hauptschmuck, und den Rest der altersgrauen Stadtmauer verhüllte dunkler Epheu.

Ein einziges Gebäude erhob sich höher und stolzer mit stattlicher Façade: die Universität. Die Häuser, die mit ihren steilen Ziegeldächern sich um dieselbe schaarten, trugen als einzigen Zierrath - Ereme wußte es - über der Hausthür auf eherner Tafel den berühmten Namen eines Lehrers der Hochschule, der einst därin gewohnt hatte. Und es war immer ihr Stolz gewesen, daß auch ihr Haus zu den also geschmückten gehörte, auch ihre Familie zu der geistigen Gemeinde zählte, die aus den erleuchteten Geistern aller Völker und Zeiten sich zusammensetzt.

Als der Fürst des Landes, dessen Standbild in Hermelin und Kurhut auf den Universitätsplatz herabschaut, die Hochschule gründete, hatte ein Clusius als Cancellarius des Landesherrn die Stiftungsurkunde vollzogen, und da die Universität ihr Jubiläum zum zweiten Male feierte, bekleidete ihr Vater, der Professor Clusius, als Rector Magnificus den höchsten Posten an derselben. Dort drüben aus dem säulengeschmückten Portal war er beim Festzug nach dem Denkmal des Stifters herab geschritten im violetten Sammettalar, die Ehrenkette um den Hals. Die Pedelle mit ihren vergoldeten Sceptern gingen voraus, die Professoren folgten, und die Studenten „in Wichs“ schlossen den Zug. Vor dem steinernen Kurfürsten und vor dessen Ururenkel, dem nunmehrigen Schützer der Hochschule, hielt er der athemlos lauschenden Menge eine seiner berühmten Reden.

Es war das letzte Mal, daß er öffentlich gesprochen hatte.

Als das Jahr 1866 gekommen war, mußte er Heilung für sein überarbeitetes Haupt suchen, und er wandte sich zu diesem Zweck der Heimath seiner Seele zu: er ging nach Griechenland. Die Hoffnung, die Stätten schauen zu dürfen, wo sein Geist von früher Jugend an am liebsten geweilt hatte, ließ die ermatteten Kräfte aufleben. Und sie, die damals kaum Neunzehnjährige, vergaß schnell den Schrecken, welchen ihr des sonst unermüdlichen Vaters Entschluß, in den Ruhestand zu treten, bereitet hatte, über die Freude auf die große Reise in das Vaterland der Iphigenie, der Antigone. Sie schrieb die Thränen der bejahrten Cousine ihres Vaters, die seinen Haushalt versorgte, dem Trennungsschmerz zu und verstand nicht, warum der alte Diener, der sie begleitete, seine bedenkliche Miene behielt.

Verklärte sich doch ihres Vaters Antlitz immer mehr, je näher sie dem Ziel ihrer Reise kamen. Mit heitrem Lächeln wandelte er auf dem Deck des großen Lloyddampfers, der sie durch das Mittelländische Meer trug und schon von orientalischem Leben erfüllt war. Albanesen sangen, in ihre Mäntel aus Ziegenfellen gehüllt, eintönige Lieder, Türken saßen mit gekreuzten Beinen an der Schiffswand und speisten aus Blechbüchsen, die in buntem Durcheinander Südfrüchte und Oel, Zwiebeln und Hammelfleisch enthielten, ein Imam warf sich vor einem Säckchen geweihter Erde aus Mekka nieder. Und sie schauten nach den Felsengestaden Ithakas, die kahl, ohne Lebensspur, aber umschwebt von Homer’s unsterblichen Gestalten, an ihren Augen vorüberzogen, bis in der rasch hereinbrechenden Nacht Odysseus’ Heimath entschwand und das Schiffsgestirn der Athener, die sieben Sterne des Wagens, wie Feuer vom Himmel herabflammte.

Im Hafen von Syra bestieg er mit frohem Zuruf das kleine Dampfboot, den „Schild“, das sie an das Ziel ihrer Reise bringen sollte.

Es war gegen Sonnenuntergang, als sie um das Cap Sunion, das jetzt Colonna heißt, herumfuhren. Da trat er zu ihr und sprach mit strahlenden Augen: „Von hier aus erschaute schon

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 601. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_601.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)