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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

enthielt und Thatsachen annahm, die niemals geschehen sind; daß niemals ein solcher Betrug, wie er dort angenommen wird, verübt ist – kann ich Ihnen in einer Weise klarlegen, daß nicht der geringste Zweifel mehr übrig bleibt.“

Raban erzählte nun, wie die Noth um Wolfgang’s Verhaftung Herrn Heinrich Melber zu ihm getrieben, wie er, der ja durch eine zufällige Aeußerung der Tante Stiftsdame von den Münzen Martens gehört, sofort eingesehen, daß er im Stande sei, Wolfgang zu Hülfe zu kommen, daß er aber auch rasch entschlossen gewesen sei, die Situation zu benutzen, um von dem einzig competenten Zeugen die Wahrheit zu erfahren. Und dann berichtete Raban Alles, was Heinrich Melber über seinen Bruder und dessen Gedanken, dessen unreif gebliebene und bald wieder fallen gelassene Vorsätze erzählt hatte – genau und ausführlich, wenn er sich auch sagen mußte, daß er dabei in Marien schmerzliche Empfindungen wach rufe, da es sich doch immer um sittliche Verirrungen des Mannes, der ihr Vater war, handelte. Aber wenn Raban auch da nicht ganz schonen konnte, wo es galt, Marien die nöthige völlige Klarheit zu geben, so bestrebte er sich doch, die Sache im mildesten Lichte darzustellen.

Marie hörte ihm still zu, ohne ihn zu unterbrechen; als er schwieg, stand sie mit einem Seufzer auf und ging einige Male wie innerlich tief bewegt im Zimmer auf und ab – dann sich plötzlich wendend, legte sie die Hand auf seine Schulter, um nun über diese unwillkürliche Bewegung sogleich auch dunkel erröthend sich rasch wieder auf ihren Sitz niederzulassen und zu sagen:

„Ich danke Ihnen aus Herzensgrund für dies Alles, was Sie für mich gethan, und ich kann nicht anders, ich muß nun auch zu Ihnen reden, wie es mir heute um’s Herz ist – ich muß auch Ihnen eine Erklärung geben – über unsinnige Worte, die ich in einer Stunde, in welcher ich mich selbst nicht kannte, zu Ihnen gesprochen habe – ich erklärte Ihnen, ich dürfe Sie nicht anhören, als Sie mir sagten, daß . . . daß Sie mir gut seien, Raban, – und doch – mein Gott, weshalb hätte ich es nicht gedurft!“

„Marie!“ rief Raban tief erschüttert und mit einer Bewegung aus, als ob er ihre Hand ergreifen wolle . . .

„Still, still,“ sagte sie, „Sie dürfen mich jetzt durch kein einziges Wort erschrecken, – Sie müssen ganz still und ruhig mich zu Ende hören. Sehen Sie, damals, als ich es sagte, war ich in einer seltsamen Selbsttäuschung befangen – ich weiß nicht, ob andere Mädchen, Frauen sich so über sich selbst und ihre Gefühle täuschen könnten – aber ich habe es gethan, es ist so. Als ich meinen Vetter Wolfgang kennen lernte, da flößte er mir, weil er ja mein Blutsverwandter ist, ganz natürlich lebhaftes Interesse ein. Und dann imponirte mir sein ganzes, sich von den Lebensformen, in denen Unsereins sich bewegt, befreiendes Wesen, das mir als der Ausdruck einer freien Künstlerseele erschien; und endlich bewunderte ich sein großes schaffendes Talent, die bildende Kraft seiner Phantasie. Das fesselte mich, ließ meine Gedanken sich mit ihm beschäftigen, und das bald um so mehr, als ich bemerken und erfahren mußte, daß er ein ziemlich wildes Leben führte und mit nicht immer sehr verständigen Genossen dem Vergnügen nachjagte. Ich sorgte mich dabei um ihn, ich fürchtete, daß er sein Talent auf diese Art zu Grunde richten würde, ich ermahnte ihn, ich hatte ein Gefühl wie das einer für ihn verantwortlichen Schwester, es kam mir der Gedanke, als müßte ich, um ihn sicher einer großen und schönen Zukunft zuzuführen, sein Weib werden, ihn behüten, leiten, beherrschen.

Das, was ich für ihn empfand, wenn ich mir vorstellte, wie nahe ihm die Gefahr eines völligen Unterganges liege, eine Gefahr, die ich wohl mit den vergrößernden Augen eines unerfahrenen jungen Mädchens sah – dies Gefühl hielt ich für Liebe. Ich war so thöricht bis zu dem Augenblick, wo Ihre Enthüllungen mich trafen und wo die Nothwendigkeit an mich herantrat, auf mein ganzes Erbe zu seinen Gunsten zu verzichten. Der Gedanke daran brachte mir Offenbarungen über mich selber, brachte mir eine Erkenntniß, die in meiner Seele den Sturm hervorrief, welcher mich, wie Sie ja selbst sahen, völlig krank machte . . . Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was Alles in mir war und mir das ganze Herz umkehrte. Es widerstrebte mir zunächst auf’s Aeußerste, mich selbst blutarm zu machen, um alles, was ich als mein Erbe betrachtet hatte, Wolfgang zu überlassen! Ich gönnte ihm zur Ausbeutung für ein wildes Leben nicht das, was ich als mein betrachtet, und was ich für meine Armen bedurfte. Selbst arm zu werden, war mir ein schrecklicher Gedanke! Und war das nicht eine Offenbarung? Wenn ich ihn geliebt hätte, würde ich nicht mit Freuden Alles, was mein, ihm dahingegeben haben? Würde es mich nicht mit Jubel erfüllt haben, ihn für alle Zeit reich und mächtig machen zu können?

Und auf der andern Seite wieder hatte ich ein Gefühl der inneren Befreiung: wenn ich nun wirklich alle meine Rechte, meine ganze Hoffnung auf ein Leben, in welchem ich Gutes thun, Hülfe gewähren, Anderen beistehen kann, dahingab und Wolfgang, wie ich ja doch mußte, opferte, wenn ich Alles bedingungslos dahingab, hatte ich dann nicht vollauf genug für ihn gethan? Konnte ich dann nicht mit freiem Gewissen ihn sich selbst überlassen und mich damit begnügen, ihm, für den nun so reich gesorgt war, aus der Ferne nachzuschauen, wie er sein Leben nun zu führen und zu gestalten verstehe? Gewiß, ich durfte es und es lag für mich ein glückbringendes Gefühl, das mich wieder für Alles trösten wollte, in dieser Empfindung persönlicher Befreiung. Dabei blieb freilich ein dumpfer, mit Aufwallung tiefer Verzweiflung wechselnder Schmerz in mir – daß Menschen so schlecht sein können, wie es Ihr Vater von dem Manne annahm, der doch immer von mir als mein Vater betrachtet worden, und an dem ich im Stillen doch immer gehangen hatte, bei dem so oft meine Gedanken gewesen waren; und daß ich nun so völlig losgelöst mich fühlen sollte von der lieben alten Großmutter daheim, die mit so viel rührender Zärtlichkeit an mir gehangen, die meine Kindheit behütet, der ich Alles, Alles verdanke – o mein Gott, ich kann Ihnen nicht Alles sagen, nicht Alles deutlich machen, was mir durchs Herz ging und was mich krank machte! Ich brauche es Ihnen ja auch nicht zu sagen, es ist ja genug, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich im Sturm der Tage, die hinter mir liegen, vollständig eingesehen habe: es war eine große, wenn Sie wollen, mädchenhafte Selbsttäuschung, wenn ich glaubte, ich liebe Wolfgang. Ja, die thörichte Einbildung eines unerfahrenen jungen Mädchens. Ich liebe ihn gar nicht – jetzt, wo ich hören mußte, daß er etwas, was ich ihm geschenkt ... doch genug, genug – ich fühle nicht einmal mehr wie eine Schwester für ihn!“

Raban hatte dem Allen in äußerster Spannung zugehorcht; fast athemlos hatte er sie angeblickt, nur mit seinen Blicken ihre Reden beantwortet – jetzt ließ er sich, übermannt von all dieser Güte, mit der sie ihm ihr ganzes Herz erschlossen, auf die Knie vor ihr nieder, ergriff ihre Hand und sagte leise:

„O mein Gott, wie ich Sie verstehe, Marie! Die Empfindung, in welcher Ihnen am stärksten Ihr Wesen bewußt wird: das Mitleid mit einer gefährdeten, vom Untergang bedrohten Menschenseele, das Mitleid mit einem Menschen, der Ihnen so nahe stehen müßte – dies Mitleid in seiner Unbegrenztheit wurde von Ihnen für die Kundgebung eines andern Gefühls gehalten, das es nicht war, nicht sein durfte . . .“

„Das es nicht war,“ versetzte sie, ihm ernst und sinnend in’s Auge schauend, aber ihn ruhig in seiner Stellung zu ihren Füßen lassend, „und daß es das nicht war, fühlte ich ja schon, als Sie mich so erschreckten mit der Erwiderung, daß Sie nicht gebunden, nicht verlobt seien ... es war mir so schrecklich, nun auf die Freundschaft verzichten zu sollen, in der ich allmählich so viel Glück gefunden, die mir mit ihrem unbefangenen Vertrauen schon so unentbehrlich geworden . . .“

„Aber weshalb sollte denn dies unbefangene Vertrauen dadurch ein Ende gefunden haben?“

„Das begreifen Sie nicht? So lange Sie einer Andern gehörten . . . mein Gott, verstehen Sie denn nicht, wie nun Alles anders für mich werden mußte, wie die Unbefangenheit und Vertraulichkeit, in welcher ein Mädchen mit einem Manne verkehrt, dessen Herz einer Andern gehört, die Zuversichtlichkeit und Sicherheit, womit sie seiner Freundschaft vertraut, wie Alles das dahin sein mußte . . . War es mir doch schon ein Seelenbedürfniß geworden, so rückhaltlos, wie ich es gethan, mit Ihnen zu verkehren. Mit dem Gedanken, Ihnen nun kühl und fremd gegenüber treten zu müssen, kam mir das Gefühl eines bitteren Verlustes . . .“

„Aber jetzt, Marie, jetzt haben Sie das Gefühl eines Verlustes nicht mehr?“ fiel Raban halb flehend, halb mit dem Tone aufjubelnden Glückes ein. „Denn, bei Gott, ich gehöre zu Ihnen, mögen Sie mich auch als Fremden betrachten, mein Leben gehört Ihnen, auf immer und ewig – in welchem Zeichen, mit welchem Namen auch, mit dem eines Freundes, eines Bruders . . .“

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