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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Folgen und wohlthätigen Wirkungen. Eine wunderbare Schule der Vorsicht, sag’ ich Ihnen, der Gescheutheit . . .“

„Nun ja,“ erwiderte Raban – „man sagt ja, wenn auch ein ‚gescheuter‘ Mensch – das heißt vielleicht: einer, dem man, etwa durch eine Haft, wenn Sie wollen, Scheu beigebracht hat!“

„So ist es: Scheu, in die mancherlei uns rings umlauernden Lebensrisicos zu geraten.“

„Ich habe einmal bei einem Geschichtschreiber die Behauptung gefunden,“ fiel Raban lächelnd ein, „daß alle großen Kraftgenies der Geschichte, alle Weltstürmer, wenn sie einmal gefangen gewesen und in Kerkerhaft gerathen, nachher nur noch eine gebrochene Kraft gewesen. Selbst Franz der Erste, sogar Napoleon . . .“

„Der Mann mag Recht haben – obwohl ich dem kaiserlich königlichen Landgericht nicht gerade nachsagen will, daß es meine Kraft gebrochen habe. Freilich bin ich auch kein Kraftgenie. Es hat mich nur mit einem gewissen sanften Zwange über mancherlei nachdenken gemacht – zu dem man außerhalb jener stillen und stilvollen Harmonie von vier schmutzigen grauen Wänden so leicht nicht kommt.“

„Sie sind ‚gescheut‘ geworden!“ sagte Raban kopfnickend.

„Wenigstens zur Scheu gebracht vor dem flotten Trab, in dem ich mein Leben bisher so dahinschießen ließ. Es ist am Ende eine unsichere Gangart – wenigstens, so lang man nicht eine ganz offene Bahn ohne alle Hindernisse vor sich hat . . .“

„Das heißt? Was verstehen Sie unter dieser Bahn?“

„Das heißt, um kurz zu sein, eine ganz und völlig gesicherte Existenz, wie Unsereins sie nur gewinnt durch eine reiche Frau. Und wenn diese Frau noch dazu ein sanftes nachgiebiges Wesen, eigentlich ein Engel von einem Geschöpf ist und uns obendrein noch aus einer verzweifelten Lage rettet, so – nun, so müßte man doch ein Narr und Pinsel sein, wenn man nicht Gott dankte, sie gefunden zu haben. Sind Sie nicht auch der Meinung?“

„Freilich,“ versetzte Raban zögernd und innerlich heftig bewegt, „freilich bin ich dieser Meinung.“

„Natürlich,“ fuhr Wolfgang fort – „und sehen Sie, deshalb komme ich eigentlich zu Ihnen. Sie werden nun meine Bitte begreifen, dasjenige zu vergessen, was ich Ihnen unlängst von Fräulein Marie gesagt haben mag. Ich weiß nicht genau mehr, welches meine Aeußerungen über Fräulein Marie und über meine Art, ihr gegenüber zu empfinden, waren. Aber was ich auch gesagt haben mag, so hat es heute keine Gültigkeit mehr für mich. Meine Gedanken und meine Vorsätze sind ganz andere geworden – völlig verschieden . . .“

„Sie wollen sich also Fräulein Marie Tholenstein’s, der reichen Erbin von Arholt, Neigung gefallen lassen?“ sagte Raban mit bittrer Betonung.

„So – ungefähr so ist es,“ entgegnete Wolfgang – „und deshalb komme ich zu Ihnen, um es Ihnen mitzutheilen, obwohl ich gar nicht weiß und berechnen kann, wie Ihre Gefühle dabei sind. Aber wie diese auch sein mögen – ich weiß, daß Sie ein Ehrenmann sind, Herr von Mureck, und daß ich deshalb darauf bauen kann, daß Sie das, was ich zu Ihnen neulich gesprochen habe, vergessen werden; daß Sie nicht meine Aeußerungen, die im Vertrauen geschahen, etwa ausbeuten und benutzen werden, um Mariens Gefühle gegen mich zu erkälten . . .“

„O, darüber können Sie beruhigt sein,“ fiel Raban fast heftig ein – „ich werde Ihre Aeußerungen zwar nicht vergessen, denn unser Gedächtniß steht nicht in unserer Gewalt; aber daß ich nichts thun werde, um die Gefühle von Fräulein Marie zu erkälten, freilich auch ebenso wenig, dieselben für Sie zu erwärmen, davon können Sie sich überzeugt halten.“

Wolfgang sah mit seinem unstäten Blick zu ihm auf und schwieg eine Weile, wie um sich den Ton zu deuten, in welchem Raban geantwortet hatte.

„Nun ja – ich wußte das ja – Sie sind ein Ehrenmann; ich wußte es ja! Ich hätte es vielleicht gar nicht zu berühren gebraucht! Aber Vorsicht ist immer besser!“

Damit erstarb das Gespräch. Wolfgang ging zu anderen Gegenständen über, und da Raban ihm nur kurze und zerstreute Antworten gab, erhob er sich nach einiger Zeit; er wollte, sagte er, jetzt zu seinem Vater gehen und den Abend einmal „en famille“ zubringen. Es schien das ein ungewöhnliches Vorkommniß zu sein!

„Wunderlich,“ sagte, als er sich entfernt hatte, Raban zu sich selbst, „wunderlich, wie Menschen seiner Art, die charakterlosesten Menschen, immer auf’s Festeste auf die Ehrenhaftigkeit Anderer bauen, von dieser Ehrenhaftigkeit alles Mögliche verlangen und auf’s Unbefangenste von ihnen eine Großmuth voraussetzen, zu welcher sie selbst völlig unfähig wären!“

Was er von Wolfgang vernommen, das mußte ihn mit den düstersten Vorahnungen für Mariens Zukunft erfüllen. Wenn diese wirklich, von ihrem bösen Schicksal geleitet, verbunden werden sollte mit einem in seinen Entschlüssen so wankelmüthigen, unzuverlässigen Menschen ohne sittlichen Charakterhalt und am Ende doch auch ohne wahrhaftes, eine tüchtige Entwickelung zu großem Schaffen verbürgendes Talent! Denn das Talent jeder Art, das dichtende wie das Gebilde schaffende, besteht immer aus zwei Elementen: der Gabe, etwas machen zu können, und aus einer idealen, sittlich angelegten Natur.

Und so brütete denn Raban über diesen Charakter, über die Möglichkeit, ob Marie mit ihrer unendlichen Güte, ihrer Reinheit und ihrer Seelengröße, der Höhe ihres Denkens je einen leitenden, veredelnden und läuternden Einfluß auf Wolfgang gewinnen würde? Ob sie dieser modernen Menschenseele je zum Aufschwung in ihre eigenen reineren Aetherlüfte werde verhelfen können? Es war wenig Hoffnung dazu vorhanden. Marie mochte alle Gaben von der Natur empfangen haben – die, zu herrschen, ihrem innersten Wesen Widerstrebendes, Häßliches zu bekämpfen und zu besiegen, war wohl nicht darunter. Sie war nicht das Weib, einem Wolfgang Melber zu imponiren. Das Beste in ihr verstand dieser gar nicht – und würde er es verstehen, so vermochte er es nicht zu schätzen, zumal bei einer Frau, die er so leicht erringen sollte, die ihm halb entgegenzukommen bereit schien. Das war das Verhängnißvolle. Hätte Melber schwer und lange nach ihr zu ringen, große Hemmnisse ihretwegen zu besiegen gehabt, so hätte es vielleicht anders werden können. Das leicht Gewonnene, sich selbst Entgegenbringende schätzt auf die Dauer kein Mann.

„Wie der Menschen Loose seltsam vom Zufall des Begegnens, vom wirren Durcheinander der sich kreuzenden Lebenspfade bestimmt werden!“ sagte Raban sich schwermüthig und eine Centnerlast auf seinem Herzen fühlend. „Die Thiere sind besser berathen als die armen Menschen. Der Vogel gesellt sich nur dem, dessen Gefieder ihm verbürgt, daß er desselben Wesens ist, die Taube nur der Taube, die Nachtigall nur der Nachtigall. Uns sagt kein Gefieder, keine Farbe am Menschen, der uns begegnet, ob er von unserer Art und Natur oder ob ein uns fremdes Geschöpf und Wesen unter seiner Haut steckt.“

Raban beschloß, schon am folgenden Tage, nach seiner letzten Unterredung mit Marie Tholenstein, aus Wien abzureisen. Wien war ihm kein glücklicher Ort gewesen. Kein glücklicher Ort! Einen solchen gab es ja nun für ihn überhaupt und in alle Zukunft nicht mehr!


11.

Als er am folgenden Tage in Mariens Wohnung erschien, führte ihn Anna sofort und mit einem sehr sonnigen Lächeln auf ihrem Gesicht in das Wohnzimmer ihrer Herrin. – Raban sah bei seinem Eintreten gleich auch den Grund dieser erheiterten Miene – als ihm Marie wie verwandelt entgegenkam und ihm herzlich die Hand bot. Sie schien bereits völlig genesen, ihre Augen waren klar und strahlend wie früher, und auch der leise Anhauch von Röthe lag wieder auf ihren Wangen.

„Ich fühle mich gesund und fast ganz im Besitz meiner alten Kraft,“ sagte sie auf Raban’s erfreute Frage, „und wie Sie es sind, der mich krank gemacht, haben auch Sie mir – gestern – die Heilung gebracht! Aber nun setzen Sie sich hier, mir gegenüber, Herr von Mureck, und lassen Sie uns vernünftig und gründlich über Alles reden. Zuerst müssen Sie mir recht ausführlich erklären, was Sie berechtigt zu der Versicherung . . .“

„Daß der Brief meines Vaters, dieser unselige Brief . . .“

„Der vielleicht auch sein sehr, sehr Gutes hatte,“ fiel ihm Marie in’s Wort, mit einem ganz eigenthümlichen Lächeln . . . „aber,“ setzte sie, als Raban darüber verwundert ausschaute, hinzu, „fahren Sie fort.“

Raban setzte sich in den Sessel vor ihrem Ruhebett, auf den sie gedeutet, während sie auf dem letzteren Platz nahm. Er fuhr fort: „Daß der Brief meines Vaters völlig unrichtige Voraussetzungen

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