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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 36.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Schluß.)


Als Raban die beiden Melber verlassen hatte und nach eiligem Gange in Mariens Wohnung angelangt war, wurde er in dem Salon von Anna empfangen.

„Das Fräulein läßt Sie bitten, mir zu sagen, wie die Sachen abgelaufen!“ sagte diese aufgeregt.

„Gut - auf’s Beste,“ antwortete Raban, über Mariens Wunsch, seine Nachricht durch Anna zu erhalten, ein wenig erstaunt, „Herr Wolfgang Melber ist der Haft bereits entlassen, ist frei.“

„Es wird das Fräulein sehr freuen dann aber läßt sie Herrn von Mureck recht sehr bitten, erst morgen um Mittag zu ihr zu kommen, um ihr Alles zu erzählen ...“

„Fühlt sie sich kränker?“ fragte Raban erschrocken.

„Nein, nicht das - nur ein dringendes Bedürfniß, mit sich allein zu sein und vieles zu überdenken ...“

„Wie sie befiehlt!“ entgegnete Raban; „so will ich morgen zur Mittagszeit wieder erscheinen.“

Er ging, betroffen und enttäuscht, das Bedürfniß Mariens nach Einsamkeit nicht recht begreifend, da sie doch gespannt die Enthüllungen erwarten mußte, welche Raban ihr noch zu geben hatte: die Aufklärungen des Graveurs, die den Schlüssel zu allen Voraussetzungen im Briefe seines Vaters enthielten, die Mittheilungen über all diese Dinge, welche Marie so unmittelbar, so nahe betrafen.

Was gab es in ihrer Seele, was dies Alles ihr ferner rückte, sie gleichgültiger dagegen machte? Hatte Wolfgang’s Mißgeschick einen solchen Sturm darin erregt? Derselbe mußte nun doch vorüber gegangen sein: er war ja frei – der geliebte Vetter! Oder hatte ein solcher Sturm, wenn sie ihn für sich allein auszukämpfen hatte, einen andern Grund – war es der Gedanke, daß Wolfgang im Stande gewesen, ihr Geschenk fortzugeben, an eine Person, von deren Existenz sie vorher keine Ahnung hatte?

Es war ja auch das möglich!

In der Dämmerungsstunde dieses Tages sah Raban den jungen Bildhauer noch einmal. Dieser kam zu ihm in seine Wohnung, wo Raban eben die ersten Vorbereitungen traf, Wien zu verlassen. Er hatte mit einer gewaltsamen Anstrengung, einer Art Sieg über sich selbst den Entschluß gefaßt, in seine Heimath zurückzukehren. – Es that nicht gut für ihn, wenn er länger in Wien blieb, wenn er fortfuhr Marien zu sehen, oder sich nur in ihrer unmittelbaren Nähe zu fühlen. Verwundert sah er jetzt Wolfgang Melber bei sich eintreten.

„Ich komme,“ sagte dieser, „Ihnen noch einmal für Ihre Bemühung um mich zu danken, gründlicher und lebhafter, als ich es im ersten Augenblick heute gethan habe – ich war da noch ein wenig aus dem Gleichgewicht durch das Erlebte und durch das immerhin sehr angenehme Gefühl, wieder freie Luft zu athmen ...“

„Ich habe,“ versetzte Raban, ihm einen Stuhl hinschiebend, „weder etwas sehr Großes, noch etwas gethan, was nicht jeder Fremde für Jemand, der unschuldig in einen häßlichen Verdacht und in Ihre Lage gekommen, gethan hätte ... “

„Und doch,“ entgegnete Wolfgang sich setzend, die Beine behaglich von sich streckend und eine Cigarre aus dem Etui, das Raban ihm jetzt bot, nehmend und anzündend, „doch danke ich Ihnen besonders dafür, daß Sie nicht nur das Nothwendige thaten, sondern daß Sie es so schnell thaten! Ist Fräulein Marie ernstlich krank?“

„Nicht das – unwohl, angegriffen ...“

„Eine Damenkrankheit also!“ fiel Wolfgang ein; er sprach ungewöhnlich langsam, wie bedächtig heut, und ebenso waren seine Bewegungen – wie gedämpft, wie von einem eigenthümlichen Phlegma niedergehalten, während er sonst doch etwas Unruhiges, Unstätes in seinem Wesen zeigte.

„Eines kann ich Ihnen sagen, Herr von Mureck,“ fuhr er fort, aus seiner Cigarre sparsam die Rauchwolken ziehend und sie energielos, langsam ausstoßend, – „Eines kann ich Ihnen sagen, daß solch eine Haft in einer Verbrecherclause einen ganz wunderlichen Eindruck auf den Menschen macht. Sie kennen die Geschichte von dem Gelehrten, der im tiefsten Schlaf Nachts sich von seinem Diener wecken ließ, um das Bewußtsein vom Wohlgefühl dieses Schlafs und des Wiedereinschlafens zu haben. Es sollte Jeder, der auf freien Füßen umherläuft, einmal etwas Polizeiwidriges, irgend eine gemeinschädliche Dummheit begehen, um sich für einige Tage hinter Schloß und Riegel zu bringen und so zum Bewußtsein zu kommen, welches Glück er mit der Freiheit genießt. Man weiß es sonst wirklich nicht zu schätzen!“

„Ich glaube nicht, daß Sie mit diesem Vorschlag viel Gehör finden, Herr Melber,“ gab Raban lächelnd zur Antwort. „Besser wäre es dann wohl schon, wohlhabende und gesunde Menschen würden zuweilen in einen Zustand von Armuth und Krankheit versetzt, der ihnen neben dem Bewußtsein ihres Glücks das Mitgefühl für die, denen es fehlt, beibrächte!“

„Meinethalben auch das!“ sagte Wolfgang. „Aber solch eine Haft ist auch nach andern Richtungen hin von gar nicht zu verachtenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 585. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_585.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)