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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

die Frage: ist Wolfgang in der That Ihr Sohn und ist Fräulein von Tholenstein die Tochter Ihres Bruders, des Gatten der verstorbenen Melanie von Tholenstein, oder – ist es anders, ist das Umgekehrte der Fall?“

Der Graveur sah ihn mit einem offenbaren Erschrecken, mit großen verwunderten Augen an.

„Aber – um Gotteswillen,“ fiel es dann von seinen Lippen, „wie kommen Sie zu der Frage?“

„Das ist meine Sache – ich habe meine Gründe zu dieser Frage. Und beantworten Sie dieselbe der Wahrheit gemäß, denn die Antwort, welche Sie mir geben, werden Sie mir auch beweisen müssen . . .“

„Der Himmel steh’ mir bei,“ erwiderte Heinrich Melber tief aufathmend, „es ist eine unglückselige Geschichte das, mit dem Jungen, dem Wolfgang – schon als er noch ein Kind war, habe ich mit meinem seligen Bruder mich um den Knaben zu zanken gehabt – und wäre nicht meine Frau gewesen, die mir ehrlich beistand . . .“

„Nun beantworten Sie aber meine Frage endlich klar und deutlich!“ unterbrach ihn Raban fast heftig – „ist Wolfgang Ihr Sohn oder ist er es nicht?“

„Freilich ist er es!“ rief der Graveur aus – „und daran soll mir Keiner zweifeln und Keiner soll mir mein Kind nehmen und mir ein falsches unterschieben, und wenn auch hundertmal diese adligen Menschen im Reiche da drüben einen männlichen Erben für all ihr Besitzthum nöthig haben und mit einer Tochter nichts anzufangen wissen, ich kann ihnen nicht helfen!“

Der Graveur hatte dies, sich in Zorn redend, ausgerufen und wischte sich jetzt die Stirn, während Raban auffahrend, aber halblaut, mit vor Bewegung zitternder Stimme sagte:

„Nun, dem Himmel sei Dank, dem Himmel sei Dank – also Wolfgang ist Ihr Sohn, – o, fürchten Sie nicht, daß irgend Jemand auf Erden Ihnen diesen Sohn rauben will – wahrhaftig nicht! Also Ihr Sohn ist er, und Alles war nur eine böse Chimäre, eine dämonische Eingebung . . .“

„Aber wie – wie kommen Sie, Herr von Mureck, zu dieser Frage – was wisseu Sie davon, daß mein verstorbener Bruder . . .“

„Ich weiß, daß Ihr Bruder in einer Unterredung mit meinem Vater diesem zu verstehen gegeben hat, Wolfgang sei sein Sohn – er habe der alten Frau auf Arholt nicht sein Kind übergeben, als er, um ein tüchtiges Jahrgehalt von ihr zu erhalten, ihr Verlangen nach der Auslieferung von Melanie’s Kind befriedigte . . .“

„Das hat er Ihrem Vater eingeredet? Damals, als er nach dem Tode des letzten Herrn von Tholenstein drüben bei Ihnen war? Ja, ja, kann mir’s denken – kann mir’s denken,“ sagte der Graveur, nachdenklich den Kopf wiegend. „Sehen Sie – um Ihnen Alles zu sagen, es war so: Wir hörten, daß dieser Herr von Tholenstein, Herr Martin von Tholenstein gestorben sei. ‚Jetzt,‘ sagte mein Bruder, ‚darf ich nicht säumen – ich muß hinüber. Jetzt ist die nächste, die alleinige Erbin das Kind, die Marie. Und ich bin Mariens Vater. Mir, mir allein kommt die Vormundschaft zu – der Nießbrauch vielleicht, der ganze Nießbrauch, jedenfalls die Verwaltung von Allem und Jedem, was da ist . . . ich bin der Vater, und das kann mir keine Macht auf Erden bestreiten.‘

‚Triumphiren Sie nicht zu früh,‘ sagte ihm meine Frau da – sie hat so viel mit den adligen Herrschaften verkehrt und von solchen Sachen reden gehört – ‚in vielen Familien,‘ sagte sie, ‚erbt ein Mädchen gar nicht die Güter, sondern sie fallen an den nächsten männlichen Verwandten, einen Vetter – und wenn er auch nur im zwanzigsten Grade verwandt ist, er geht doch der leiblichen Tochter vor!‘

‚Das kann nicht sein, das wäre ja himmelschreiend,‘ versetzte mein Bruder.

Meine Frau aber blieb dabei, und so fiel es wie ein böser Frost auf die blühenden Hoffnungen meines Bruders. Er hielt Nachfrage danach bei Leuten, die es wissen mußten, und hörte, daß dem wirklich so sei, in vielen Familien, aber freilich nicht in allen. ‚Was ist da zu machen?‘ sagte er endlich – ‚herrscht auch bei diesen Tholenstein eine solche infame Einrichtung, eine solche gotteslästerliche Ungerechtigkeit, so muß man ihnen einen Knaben als Erben liefern. Kann Dein Wolfgang nicht ebenso gut mein Knabe sein, als Deiner? Wer weiß etwas darüber auszusagen? Wir lassen einen Taufschein Mariens aus Ungarn kommen, die nöthigen Veränderungen darin machst Du, Heinrich – wozu bist Du Graveur, das ist Dir ein Kinderspiel – und die Folge ist, daß Dein Junge für seine ganze Lebenszeit versorgt und glücklich und ein großer reicher Herr ist.‘

Das waren nun sehr leichtsinnige Redensarten, diese und viele andere mehr, und wir, meine Frau und ich, waren weit entfernt, darauf einzugehen – er aber sprach ein Langes und Breites darüber, wollte in seiner Thorheit gar nicht die Schwierigkeiten und die Gefahren einer solchen unredlichen Handlung einsehen und bedrängte uns mit allen möglichen Vorschlägen. Endlich reiste er ab, voll schönster Voraussetzungen und Hoffnungen – um dann nach einiger Zeit sehr kleinlaut zurückzukehren.

‚Es ist da nichts, gar nichts zu machen,‘ sagte er verdrossen. ‚Eine ungerechte Weit ist’s – eine schmachvoll ungerechte Welt. Auch wenn mein Kind ein Knabe wäre, würde da nichts zu erben sein für ihn – es gehört Alles, Alles noch der alten Frau auf Arholt, Alles nur ihr! Ist gar nichts zu hoffen. Und was die Sache mit Deinem Wolfgang, verstehst Du, betrifft, so hätte sie auch einen ganz verdammten Haken gehabt – man hätte mich wegen der Unterschiebung eines Kindes beim Kragen genommen und eingesteckt – Du siehst, Heinrich, es ist für uns eben nichts zu machen in dieser ungerechten, niederträchtigen Welt, wo solch ein habgieriges altes Weib Alles, just Alles an sich reißt und Unsereins das Nachsehen hat! Reden wir nicht mehr davon. Kein Wort mehr davon!‘

Und es ist auch zwischen uns nicht mehr davon geredet worden, Herr von Mureck, bis zu dieser Stunde ist kein Wort mehr davon über meine Lippen gekommen, bis jetzt, wo Sie mich darnach fragen und ich Ihnen nun Alles gesagt habe, was ich weiß – Alles!“

„Ich glaube es Ihnen, und ich danke Ihnen,“ antwortete Raban hocherfreut – „haben Sie ein Taufzeugniß Ihres Sohnes?“

„Nein – aber ich könnte es beschaffen – aus Böhmen kommen lassen.“

„Bitte, thun Sie das – zur vollständigen Sicherheit; ich möchte es meinem Vater, um ihn völlig zu überzeugen, vorlegen.“

„Es soll geschehen – aber hängt von der Beschaffung des Taufscheines das Zeugniß ab, welches Sie mir zugesagt haben? Das Zengniß für Wolfgang’s Unschuld?“

„Nein – ich glaube nicht, daß es noch von irgend Etwas abhängen wird – kehren Sie nach einer Stunde hierher zurück, und ich hoffe, es in Ihre Hände legen zu können – harren Sie hier auf mich, falls ich noch nicht da sein sollte!“

„Ich werde pünktlich da sein,“ versetzte Heinrich Melber, erhob sich und ging mit offenbar großer Herzenserleichterung.


10.

Eine Viertelstunde später klingelte Raban an der Thür von Mariens Wohnung. Er gab dem Diener ein aus seiner Brieftasche gerissenes Blatt für das gnädige Fräulein. Es enthielt die Worte: „Ich muß Sie sprechen. Es handelt sich um Wichtiges für Sie, Wolfgang und mich.“ Der Diener kam zurück und führte Raban in den Salon mit der Bitte, zu warten. Bald nachher erschien Anna, um Raban zu ihrer Gebieterin zu führen. Er fand Marie in ihrem Zimmer auf dem Ruhebette ausgestreckt, sehr bleich und mit einem milden, verklärten Gesichtsausdrucke ihm entgegensehend, die eine Hand auf ihr Herz drückend, als ob sie dessen Schlag niederhalten wolle.

„Sie haben mir Wichtiges zu sagen – aber, bitte,“ sagte sie lächelnd, „geben Sie mir es tropfenweise, wie Anna mir ihre Medicin gegen meine Anfälle von Herzklopfen – auch wenn Ihre Mittheilung freudiger Art ist, wie ich an Ihrer Miene sehe . . .“

„Sie ist freudiger Art,“ versetzte Raban, sich gewaltsam fassend und zurückhaltend – „sehr freudiger Art sogar. Freilich zunächst nur für Sie und nicht für mich, der ich mit einer nur um so größeren Schuld bedrückt vor Sie treten muß. Ich habe Ihnen Enthüllungen gemacht, die auf ganz falschen Vorstellungen von den Thatsachen, auf völlig unwahren Voraussetzungen beruhten – auf rein aus der Luft gegriffenen Andeutungen, Aeußerungen eines Mannes, die völlig inhaltlos und leer waren.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 570. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_570.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)