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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Werk der flammenden provençalischen Sonne, diese physiognomischen Unterschiede. In malerische Lumpen gehüllt, baarfuß und oft auch baarhaupt, sitzt oder liegt das auf den warmen Steinen des Hafenquais, einer leichten und vorübergehenden Arbeit harrend, welche den geringen Tagesbedarf decken und dann womöglich noch einiges Faullenzen gestatten soll. Wenn diese Leute nicht gerade ihre behagliche Siesta halten, so vollführen sie ein endloses Geschwätz und Gezänke, wobei die Augen rollen, die Zähne blitzen, die Fäuste beunruhigend vor den Nasen herumfahren und gewaltige Gesticulation jeden Muskel und Knochen im Leibe in zappelnder Bewegung halten. Gesang, Gelächter, Geschrei tönt betäubend aus den Gruppen, und der überlaute Wortwechsel, der den Plappernden Gelegenheit giebt, sich an der dröhnenden Kraft der eigenen Stimme zu erfreuen, wird mit bedenklicher Leichtigkeit ungemüthlich; die Laune schlägt in wildem Aufbrausen urplötzlich um, und im Nu blitzt eine Messerklinge durch die Luft.

Die Lebensweise dieser Leute ist die denkbar ursprünglichste. Den ganzen Tag und in der warmen Jahreszeit auch den größten Theil der Nacht verbringen sie haufenweise im Freien und das begreift sich, da die sonnigen Straßen, Plätze und Quais für sie unvergleichlich stärkere Anziehung haben müssen als ihre schmutzigen, finsteren, übelriechenden und dürftig ausgestatteten Wohnungen in den pestilenzialischen Gäßchen. Reinlichkeit des Körpers ist ihnen eine unbekannte Tugend und durch Waschen der Hände und des Gesichts mit verdächtigem Wasser werden sie kaum jemals zum Cholerabacillus gelangen, das kann man ruhig sagen. Ihre Nahrung besteht aus Seemuscheln, Fischen etc. und aus den Obstarten, welche die Provence in solcher Fülle hervorbringt. Um einige Sous können sie sich eine Mahlzeit verschaffen, in welcher das Pflanzen- und Weichthier-Element vorherrscht und die im Freiem mit schmutzigen Händen und in der allerunappetitlichsten Umgebung eingenommen wird. Ist es da noch zu verwundern, daß der Cholerabacillus, wenn er einmal in die Stadt Eingang gefunden hat, sozusagen nach eigenem Belieben schalten und sich seine Opfer holen kann, wie es ihm gefällt?

Der geistige Zustand des geschilderten Proletariats entspricht seinem leiblichen. Der Reisende hat einige Mühe, sich zu überreden, daß er da Angehörige der Nation vor sich hat, die sich rühmt, an der Spitze der Civilisation einherzuschreiten, und dieses Selbstlob zwei Jahrhunderte lang thatsächlich verdient hat. Das gemeine Volk in Toulon und Marseille steht auf einer beschämend niedrigen Bildungsstufe. Die Kunst des Lesens ist Wenigen geläufig, und daß auch die des Schreibens nicht verbreiteter ist, beweist die große Anzahl von „öffentlichen Schreibern“ (écrivains publics), die in Winkelläden oder hölzernen Buden einer reichlichen Kundschaft um einige bescheidene Bronzemünzen die geschäftliche und sentimentale Correspondenz besorgen. Der schwärzeste Aberglaube nachtet in diesen armen, unwissenden Geistern, in welchen alle Legenden und Märchen sich mit derselben Ueppigkeit züchten und vervielfältigen, wie alle organischen Krankheitserreger auf und in ihren verwahrlosten Leibern. Wie die Spanier und Süditaliener verbinden sie absoluten Atheismus mit ebenso absoluter Bigotterie. Gott kennen sie nicht, wohl aber haben sie Angst vor dem Teufel. In die Kirche gehen sie nicht, aber an einem Kreuze kommen sie nicht vorbei, ohne eine Reverenz zu machen. Ueber den Geistlichen machen sie sich lustig, seine Fürbitte bei einem mächtigen Ortsheiligen schlagen sie aber hoch an. Keiner unternimmt etwas, ohne sich mit einem Amulet zu bewaffnen; in gefährlichen Lagen wird die heilige Jungfrau de la Garde angerufen, die Schutzpatronin der Provence, eine christliche Vermummung der alten Heidengöttin Venus, welche einst in diesen Gegenden und von den Ahnen dieser Bevölkerung verehrt wurde, und man macht ihr Versprechungen, welche nicht gerade oft gehalten werden, wenn die Gefahr vorüber ist. Der erste Gedanke bei einer öffentlichen Noth ist die Veranstaltung großer Processionen; der zweite dürfte freilich in der Regel der sein, die Heiligenbilder zu zerbrechen und die Schutzengel zu schmähen, wenn sie das Unheil nicht abgewandt haben, wie man es von ihnen erwartet und verlangt hat.

Ueber den Charakter der Südfranzosen im Allgemeinen ist in den letzten Jahren viel gesagt und geschrieben worden, darunter von den allerberufensten Federn. Alfons Daudet, selbst ein Sohn der Provence, dazu ein scharfer Beobachter und darum muthmaßlich ein genauer Kenner seiner engeren Landsleute, hat von ihnen in mehreren Romanen, besonders in „Tartarin de Tarascon“ und in „Numa Roumestan“, ein ergötzliches, allerdings auch wenig schmeichelhaftes Bild entworfen. Er schildert sie als unzuverlässig in ihren Versprechungen, wankelmüthig in ihren Vorsätzen, als kalte, rücksichtslose Egoisten, als Prahler und Großsprecher und besonders als unheilbare Lügner. Es ist selbstverständlich, daß diese schlimmen Eigenschaften, von denen sich sogar die Gebildeten des Volksstammes nicht befreien können, bei den niederen Classen, welche weder Selbstzucht noch Geistesdisciplin, weder erhebende Ideale noch erziehlich wirkende Beispiele kennen, noch viel stärker hervortreten. Pflichtgefühl und Solidarität sind unbekannt; Jeder sorgt nur für sich und kümmert sich nicht um den Nachbar. Epidemischer Schreck und sinnlose Wuth finden den günstigsten Boden und veranlassen die schrecklichen socialen Erscheinungen, die man bei allen Seuchen und Revolutionen in diesen Städten beobachtet hat. Ihre Bewohner sind große Kinder, und um ihr Seelenleben zu verstehen, muß man sich die Psychologie des Kindesalters gegenwärtig halten. Sie sind vollständig ohne innern Halt und darum die widerstandslose Beute jedes äußern Eindrucks. Sie glauben im Augenblicke, wo sie es hören, jedes Wort, das man ihnen sagt, und einen Moment darauf ein durchaus entgegengesetztes. In ihrer regen Einbildungskraft erfahren alle Vorstellungen eine ungeheuerliche Multiplication, und es fehlt ihnen jedes Instrument der Kritik, der nüchternen Beurtheilung, um diese monströsen Uebertreibungen auf ihre wahren Größenverhältnisse zurückzuführen.

Dieses Vorherrschen einer zügellosen Phantasie erklärt die Verlogenheit dieser Bevölkerung und namentlich ihren Hang zur Selbstbelügung. Was hat die gegenwärtige Epidemie nicht wieder für unheimliche Gasconaden zu Tage gefördert! Kaum waren in Toulon die ersten Choleratodesfälle bekannt geworden, als die Bevölkerung auch schon die unerhörtesten Geschichten herumerzählte. Ganze Straßen sollten in wenigen Stunden ausgestorben sein, die Behörden während der Nacht im Geheimen Leichenzüge von Hunderten nicht verzeichneter Opfer veranstalten, die Kranken wie vom Blitze getroffen in den Straßen zusammenbrechen etc. Wer solche Schauermären hörte, der fühlte sich verpflichtet, sie mit einigen Zuthaten und Ausschmückungen dem Nachbar weiterzugeben, und wenn sie eine halbe Stunde später in weiterer Vergrößerung zu ihm zurückgelangten, so war er der Erste, an ihre buchstäbliche Wahrheit zu glauben.

So bemächtigte sich der Bevölkerung jenes Entsetzen, welches sie antrieb, in wilder Flucht ihre Wohnstätten zu verlassen und sich gleich einer vom Wolfe gejagten Heerde über das offene Land zu zerstreuen, ein Entsetzen, über das die Pariser Zeitungen mit tiefer Beschämung berichten und von dem kein Zuspruch der Behörden, keine Mahnung der wenigen kaltblütig gebliebenen Gebildeten sie bis jetzt heilen konnte. Toulon soll zur Stunde 15,000, nach einigen, wahrscheinlich übertriebenen, Schätzungen sogar blos 6000 Einwohner zählen, aus Marseille sind 120,000 Menschen ausgerissen und an manchen Tagen lieferte man sich in den Abfahrtshallen der Eisenbahn förmliche Schlachten, um einen Sitz in einem Waggon zu erobern; in Arles, das 25,000 Einwohner zählt, stürmten beim Bekanntwerden der ersten Cholerafälle über 20,000 Menschen wie wahnsinnig aus der Stadt, und diese beherbergt nach amtlichen Berichten nicht mehr 5000 Individuen. Man ließ Kranke allein in ihren Stuben leiden und sterben; man weigerte sich, Leichen wegzuschaffen, Beamte und Stadtverordnete verließen feig ihren Posten und waren durch keine Drohung zur Rückkehr zu bestimmen; man dachte in vielen Fällen nicht einmal daran, sein Eigenthum zu schützen, sondern rannte wie besessen davon, ohne die Schränke und die Wohnungen zu verschließen. Das Zusammenwirken all dieser materiellen und moralischen Umstände allein erklärt es, daß eine Epidemie, die sich ursprünglich sehr mild anließ und auch jetzt noch geringe Bösartigkeit zeigt, solche örtliche Verheerungen anrichten und eine so tief demoralisirende Wirkung um sich her verbreiten konnte. Wo immer man der Cholera körperliche Reinlichkeit und moralische Festigkeit entgegensetzen wird, da wird sie sicherlich nicht mehr, eher weniger Schrecknisse haben als etwa Unterleibstyphus oder häutige Bräune, diese ständigen Gäste aller Großstädte.

Max Nordau.     

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_546.jpg&oldid=- (Version vom 12.3.2024)