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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

besonders ängstlichen Gemüthern trat die Sorge für Leben und Gesundheit nahe. Um die Sorge wegen des Eigenthums zu zerstreuen, wurde von der Regierung die förmliche Erklärung erlassen, daß sie den Hauseigenthümern gegenüber für alle in Staßfurt auftretenden Bergschäden aufkommen werde.

Durch Zimmerung gestützte Stadtmauer in Staßfurt.

In diesem Sinne wurden vom Fiscus zunächst Hausreparaturen vorgenommen bez. die von den Hauseigenthümern hierfür verlegten Beträge ersetzt, Miethsausfälle gedeckt u. dergl. Sodann wurde zu weitergreifenden Schadensregulirungen, als Ankauf unbenutzbar gewordener Gebäude, Ausgleichung dauernder geschäftlicher Nachtheile u. dergl. geschritten. Es ist auch zu erwarten, daß dem Versprechen gemäß nach und nach, wie es der Charalter der zum großen Theil noch nicht abgeschlossenen Beschädigungen allein gestattet, alle Beschädigten zu ihrem vollen Rechte kommen werden.

Zugleich wurden die bereits früher verfügten und begonnenen Arbeiten zur Ausfüllung der durch den Bergbau unterhalb der Stadt hergestellten Hohlräume mit dem durch die Verhältnisse bedingten Grade von Energie weiter geführt. Als Erfolg dieser Arbeiten ist hervorzuheben, daß die Gefahr weiterer Senkungen von irgend welcher Erheblichkeit für das ganze Centrum der Stadt bereits als beseitigt gelten kann und auch für deren übrigen – südlichen – Theil voraussichtlich bald beseitigt sein wird, sowie, daß Erschütterungen, welche früher fast täglich sich wiederholten, jetzt nur noch etwa vier- bis fünfmal im Monat vorkommen.

Durch Erderschütterung beschädigtes Haus in Staßfurt.

Wünschen wir, daß gegen die fleißigen Menschenhände, welche bei diesem Sicherungswerke beschäftigt sind, die unruhigen Berggeister thatsächlich nicht mehr aufkommen mögen und die rührige Industriestadt Staßfurt in Zukunft um so fester gegründet stehen möge auf dem Boden, dem sie ihren Weltruf verdankt!


Die herzogliche Bibliothek in Wolfenbüttel. (Mit Abbildung S. 528.) Dieses Bild festzuhalten erscheint gerade jetzt als Pflicht, denn bald wird das ehrwürdige Gebäude mit seinen reichen und großen Erinnerungen von der Erde verschwunden sein. Schon seit recht langer Zeit war der alte Holzbau so gebrechlich geworden, daß den unersetzlichen Schätzen der berühmten Bibliothek die ernstesten Gefahren drohten; nach langen Verhandlungen hat die brennende Frage, wie und wo die kostbare Büchersammlung unterzubringen sei, ihren Abschluß damit gefunden, daß die braunschweigische Regierung sich zu einem massiven Neubau, dicht neben dem alten Gebäude, entschlossen hat. Dieser Neubau, der in würdiger Gestalt allen Anforderungen an Sicherheit und Zweckmäßigkeit genügen wird, ist bereits rüstig gefördert worden, und in wenigen Jahren wird die ganze Bibliothek in den neuen, schönen Räumen geborgen sein.

Die Welt hat nur wenige Büchersammlungen aufzuweisen, welche an Werth und Bedeutung sich der Wolfenbüttler zur Seite stellen könnten; für die Zeit vom Anfang des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts steht sie unbestritten an erster Stelle; kaum irgend ein Flugblatt jener großen reformatorischen Jahre wird in Wolfenbüttel vergebens gesucht werden. Aber auch noch weit höher hinauf, ja bis in’s 8. Jahrhundert ist die Wolfenbütteler Bibliothek durch Handschriften, für die mittleren Zeiten durch Druckwerke vertreten, welche vom höchsten Werthe sind und zum Theil als einzige Exemplare hervorragender Geisteswerke dastehen.

Der Ruhm, diese literarischen Schätze gesammelt und erhalten zu haben, gehört vor allem dem Herzoge August dem Jüngern, der 1635 zur Regierung gelangte. Er wurde 1579 in Dannenberg geboren, und da er als jüngerer Prinz nicht darauf rechnen konnte, einmal den Thron zu besteigen, so wandte er die Geisteskräfte, die ihm in ungewöhnlich reichem Maße zugefallen waren, den Studien zu, und er betrieb sie nicht als fürstliche Spielerei, sondern in ernster, nie ermattender Thätigkeit. Er besuchte die Universitäten Rostock und Tübingen; seine ungemein fleißig ausgearbeiteten Collegienhefte sind noch jetzt vorhanden. Nach einer fast vierjährigen Studienzeit sah er auf längeren Reisen Italien, Frankreich und England und ließ sich nach seiner Rückkehr in Hitzacker nieder, einem Städtchen mit Schloß, das ihm sein Bruder überwiesen hatte. Hier, in seinem Ithaka, wie er sagte, lebte er volle dreißig Jahre in glücklicher Zurückgezogenheit, unterhielt einen ausgebreiteten gelehrten und politischen Briefwechsel, beschäftigte sich mit den Wissenschaften und schrieb selbst ein Buch über das Schachspiel, das mehr als ein Jahrhundert lang das Hauptwerk in diesem Fache war; sein umfangreiches Tagebuch über alle Reisen, die er gemacht, ist eine wichtige, bis jetzt noch unbenutzte zeitgeschichtliche Quelle.

Nach seines Bruders Tode bestieg er 1635, selber schon 55 Jahre alt, den Thron. Das Land Braunschweig-Wolfenbüttel war durch den Dreißigjährigen Krieg auf’s schlimmste verwüstet, die Hauptstadt Wolfenbüttel selber war bis 1643 noch von den Kaiserlichen besetzt. Sobald Herzog August die Regierung übernommen, zeigte sich der gelehrte Fürst auch als einen höchst gewandten, praktisch erfahrenen, alles überschauenden Regenten, dessen Fleiß und Pflichttreue in kleinen wie in großen Dingen geradezu an Friedrich den Großen erinnern. Er gab nach eigenen Entwürfen eine neue Kirchenordnung, er half dem ganz vernachlässigten Schulwesen auf und setzte dabei, als eine Grundbedingung für das Gedeihen der Schulen, eine hinreichende Besoldung der Lehrer fest. Ferner schuf er auf anderen Gebieten eine fast vollständig neue Ordnung, sorgte für die Sicherheit der Landstraßen und erfreute sich an Jagd und Ritterspiel. Sein Kleinod aber war, wie schon früher, so auch jetzt seine Büchersammlung. Bei seinem Einzuge in Wolfenbüttel fand er werthvolle ältere Bestände an Handschriften und gedruckten Büchern, die von den Herzögen Julius und Heinrich Julius, dem Rechtsgelehrten, gesammelt waren, bereits vor, und die älteren literarischen Schätze mit den eigenen, theilweis schon in Hitzacker gesammelten zusammenzustellen und übersichtlich in einem besonderen Gebäude zu ordnen, war jetzt eine Lieblingsbeschäftigung, welche jede Mußestunde des ohnehin stark in Anspruch genommenen Fürsten ausfüllte. Er selbst sah die Buchhändlerkataloge sorgfältig durch, kaufte die neuen Bücher und ließ sich keine Mühe verdrießen, seltenen Werken so lange nachzugehen, bis er ihrer habhaft wurde; er selbst stellte die Bücher auf, ja er verfaßte eigenhändig den Katalog, vier starke Bände im größten Folio, jeder mehr als tausend Seiten stark, „das Ganze ein Werk von staunenswerther Geduld, und wahrhaft ehrwürdig, wenn man bedenkt, daß es die Frucht der Mußestunden eines regierenden Fürsten ist, der darüber nie eine Regentenpflicht versäumt hat“ – wie ein späterer Bibliothekar rühmt.

Bei dem Tode des Herzogs enthielt die Bibliothek fast 120,000 Werke; in seinem Testamente sagte er: „Wir wollen auch Unserem Sohne und dessen Successoribus auf ihr Gewissen dieses alles befehlen und dahin zu sehen ermahnen, daß dieser unermeßliche Schatz des ganzen Landes, auch Zierde Unseres ganzen Hauses, nicht in Abgang gerathen, sondern durch Gottes gnädigen Beistand erhalten und von Zeiten zu Zeiten vermehret werde.“

Aber von den Nachfolgern des Herzogs hat keiner den Erwartungen des Gründers der Bibliothek entsprochen. Von Zeit zu Zeit sind ihr größere Zuwendungen gemacht worden, zu andern Zeiten wieder hat man sie gänzlich vernachlässigt, und deshalb sind für die letzten beiden Jahrhunderte in ihren Beständen große Lücken zu verzeichnen.

Ein besonderer Ruhm wurde der Bibliothek noch dadurch zu Theil, daß Lessing von 1770 bis 1781 die Stelle des Bibliothekars verwaltete. Es ist bekannt, wie wenig Freude er an diesem Amte fand; er hatte höhere Aufgaben zu erfüllen, als Bücher zu hüten. Mit dem alten Bibliothekgebäude wird die Stätte der leidensvollen letzten Jahre seines Lebens verschwinden; sein Wohnhaus, das nahe dabei steht, bleibt als Wohnung des jetzigen Oberbibliothekars noch erhalten. Es ist ein sehr einfaches, einstöckiges Gebäude mit zwei Flügeln; über der Eingangsthür hat man 1881 eine Gedenktafel angebracht. Dies Haus ist die Stätte, wo „Nathan der Weise“ entstanden ist; es ist ebenfalls alt und ziemlich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_535.jpg&oldid=- (Version vom 12.3.2024)