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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


bereiten. Raban wandte sich noch einmal an sie – mit ein wenig beklommener Stimme sagte er:

„Sie haben mir mit so großer Güte die Rechte der Landsmannschaft zuerkannt – würde ich dieselbe Güte bei Ihrer Verwandten finden, wenn ich darauf hin mir erlaubte, ihr meinen Besuch abzustatten?“

„Daran zweifle ich nicht,“ entgegnete Marie Tholenstein lebhaft und wie erfreut. „Nur müßten Sie in den Abendstunden kommen, den größtem Theil des Tages bringt meine Tante im Bette zu. Ich will sie auf Ihren Besuch vorbereiten, sie wird gern mit Ihnen von der Heimath plaudern, die sie so lange nicht mehr sah. Herr Melber wird Ihnen beschreiben, wo wir wohnen.“

Raban hatte keinen Grund mehr, länger zu verweilen. Er empfahl sich, von Melber hinaus begleitet. Dieser gab ihm dabei die unferne Straße und die Nummer des Hauses an, in welchem die alte Stiftsdame wohnte.

Dann kehrte Melber in sein Atelier zurück, wo Marie Tholenstein eben noch mit dem Knöpfen ihrer Handschuhe beschäftigt war.

„Weshalb haben Sie mir von dem Verlangen dieses Herrn von Mureck nichts gesagt?“ fragte sie ihn mit einem Tone des Vorwurfs.

Melber lachte auf.

„Ich war nicht so dumm,“ entgegnete er mit einer eigenthümlichen Vertrautheit und völligem Sichgehenlassen in seinem Wesen ihr gegenüber. „Hätte ich’s Ihnen gesagt, so würden Sie geantwortet haben: Nein! ich kann nicht zugeben, daß ein fremder Mensch Etwas besitzt, was er den Leuten als ein Portrait von mir zeigen kann. Nun kommt mir aber der Auftrag gerade im rechten Augenblicke, just recht gelegen. Darum sagte ich mir: mag sie diesen jungen Herrn und Kunstliebhaber erst kennen lernen, und mag er dann selbst ihr sein Anliegen vorbringen; sie ist viel zu gutmüthig, ihm dann eine abschlägliche Antwort zu geben!“ –

Marie Tholenstein antwortete nichts. Nur ein Schatten von Mißmuth glitt über ihre Züge. Sie stand noch sie folgte jetzt mit einem Blicke, welcher eine ängstliche Spannung verrieth, seinen Bewegungen, während er sagte:

„Der Herr von Mureck ist ja wohl ein Landsmann von Ihnen – sagte er es nicht?“

„Er ist ein Landsmann – er stammt von einem Gute, das keine Stunde weit von dem meiner Großmutter entfernt liegt.“

„Ah – das muß Ihnen diesen jungen Herrn ja sehr interessant machen; Sie wenigstens schienen es ihm in hohem Grade zu sein, und zwar nicht blos Ihr Kopf in meiner Gruppe . . . nehmen Sie sich in Acht . . .“

„Vor wem?“ fragte sie mit zitternder Lippe und einem Tone, in dem etwas Gereiztes lag.

„Vor wem? Nun ja, Sie haben Recht. Er ist ein hübscher Mensch, ein Herr von Mureck – ein Baron vielleicht gar – dabei des Nachbars Kind . . .“

Sie wandte sich mit einer heftigen Bewegung ab.

„Ich wollte,“ sagte sie halblaut mit zorniger Stimme, „ich hätte Ihnen nie erlaubt, meinen Kopf zum Modell Ihrer Gruppe zu nehmen.“

„Weshalb nicht?“ fragte er spöttisch. „Ist er mir nicht gelungen? Bin ich ihm nicht gerecht geworden?“

„Adieu,“ gab sie nur zur Antwort – „ich muß gehen. Komm, Anna!“

Damit verließ sie, gefolgt von ihrer Jungfer, den Raum. Wolfgang Melber blickte ihr mit einem selbstzufriedenen, wie triumphirenden Lächeln nach – dann zog sich seine Stirn zusammen, und er sah wie in Gedanken verloren lange starr auf den Boden zu seinen Füßen.


7.

Raban begab sich in einer eigenthümlichen Stimmung heim – erfreut, wie auf Wolken getragen, völlig bezaubert von der Erscheinung, der er endlich sich hatte nähern dürfen, und glücklich, daß diese Erscheinung nun in dem vollen reinen Lichte vor ihm dastand, in dem es schon ein Bedürfniß seines Herzens war, sie zu sehen. Und dann auch wieder beklommen, fast bestürzt, daß sie nun wirklich, wie er beim ersten Erblicken geahnt, gewußt, Marie Tholenstein war – dieselbe Marie, über welche er eben die Enthüllungen seines Vaters erhalten, dieselbe, aus deren Lebenskreis er als junger Mensch so ängstlich war fern gehalten worden, dieselbe, deren dunkle unaufgeklärte Herkunft ihn ewig fern von ihr halten sollte.

Sollte! Aber auch mußte? Weshalb mußte? fragte er sich mit einem stürmischen Aufwallen. Gesetzt auch, Marie Tholenstein wäre nicht die richtige Erbin des Geschlechts, dessen Namen sie trug, sie hätte nicht den geringsten Anspruch auf diesen Namen den sie führte, nicht das geringste Recht auf alles Das, als dessen Erbin sie bezeichnet wurde – was ging es ihn, Raban von Mureck, weiter an? Er hatte sicherlich nicht sein Herz verloren an einen Namen und ein glänzendes Erbe; brauchte er es zurückzunehmen, wenn der Name und das Erbe genommen wurden? Mochte sie immerhin die Tochter des Graveurs sein – der Trieb nach einer Kunstübung in ihr schien ja außer seines Vaters Gründen auch dafür zu sprechen – was änderte das an dem bezaubernden Wesen ihres Selbst, das ihn nun einmal gefangen hielt und all sein Sinnen und Denken nicht mehr los ließ – er fühlte das, von heute an war er ein sich selbst entrückter Mann, von einer Gewalt erfaßt, die in ihrer Alles besiegenden Stärke so wenig Aehnlichkeit hatte mit seinen jugendlichen Gefühlen für das freundliche junge Geschöpf an jener Mühle, und mit seinem Geblendetsein durch die glänzende Erscheinung Leni Eibenheim’s.

Leni Eibenheim! Der Gedanke an sie war ihm schon zu einem ernüchternden, beklemmenden geworden. Er konnte, er wollte nicht täuschen und seufzte bei dem Nachsinnen darüber, wie wenig Anlage ihm die Natur zu der Diplomatie gegeben, deren er jetzt bedurfte, um allmählich und mit guter unverletzender Wendung sich aus dem Kreise der reizenden Leni zurückzuziehen!

Er seufzte bei diesem Nachsinnen darüber, aber er sann nicht lange darüber nach. Seine Gedanken waren bald wieder von der sie beherrschenden Strömung fortgerissen; er grübelte über das Verhältniß von Marie Tholenstein zu Wolfgang Melber nach – weshalb nahm sie ihren Kunstunterricht bei dem jungen Manne, da doch sicherlich die Ateliers älterer, berühmterer Künstler ihr dazu geeigneter hätten scheinen müssen? Weshalb erlaubte sie ihm ein auffallend ungebundenes Wesen, etwas merkwürdig Formloses im Verkehr mit ihr, ein eigenthümliches Sichgehenlassen in Gegenwart der vornehmen jungen Dame? Die Lehrereigenschaft konnte das bei einem so jungen Manne nicht mit sich bringen! Konnte es die Verwandtschaft, die freilich so nahe war, wenn Melber, wie nicht zu zweifeln, der Sohn des Graveurs oder der vorgebliche Sohn desselben war? Und diese Verwandtschaft mußte sie zusammengeführt haben – Marie Tholenstein in den Kreis dieser Leute, ob sie nun durch Enthüllungen der Tante, oder durch Eröffnungen, welche ihr von den Angehörigen Wolfgang’s gemacht worden, dahin geführt war. Das Eine nur blieb fraglich: wußte durch solche Enthüllungen und Eröffnungen, welche ihr von dem ehemaligen Schauspieler Melber am ehesten gemacht sein konnten, Marie um das Fragliche, Dunkle ihrer Herkunft? Lebte überhaupt jener Schauspieler noch, dem einst Melanie Tholenstein auf seinem Wanderleben gefolgt war?

Das letztere war leicht zu erfahren. Auch das andere aus der eigenen Beobachtung wahrzunehmen, konnte nicht schwer sein, wenn Raban Marie, wie er hoffen durfte, nun öfter sah. –

Für den Abend mußte er sich entschließen, im Salon der Frau von Eibenheim zu erscheinen. Er fand die gewöhnlichen Gäste dort und zu seiner Herzenserleichterung Leni von einem jungen Vetter, einem in Urlaub aus Ungarn gekommenen Officier in Anspruch genommen, der gar viel aus dem magyarischen Paradiese zu erzählen hatte und Erstaunlichkeiten zum Beweise der Landes- und Volksblüthe in Fülle vorzutragen wußte. Auch Graf Kostitz hörte ihm aufmerksam zu, mit einem ironischen Lächeln, wie auf ein geflügeltes Wort sinnend. Vielleicht fand er keines, sicher ist, daß er mit keiner Bemerkung in dem Redestrome des jungen Mannes Platz fand. Der Doctor Silbermann zeigte ein umwölktes Antlitz. Er mußte noch immer seinen aragonischen Löwenthalern nicht auf die Spnr gekommen sein – Raban wagte nicht, hier in der Gesellschaft ihn darnach zu fragen, da ja der Verlust strenges Geheimniß bleiben sollte.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 505. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_507.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2022)