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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 31.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)
6.

Von der Begierde getrieben, der geheimnißvollen Unbekannten einen Schritt näher zu kommen, erschien Raban am andern Tage zur festgesetzten Stunde in dem Atelier Wolfgang Melber’s. Er fand in dem ersten Raum nur den kleinen älteren Kunstgenossen Wolfgang’s und ein wie eine Zofe aussehendes junges Mädchen, das wie wartend in seiner Nähe saß und mit ihm plauderte.

„Herr Melber,“ sagte der Kunstgenosse, „ist ausgegangen, wird aber sehr bald wieder hier sein – bitte, treten Sie nur hier ins andere Atelier ein! Sie werden darin eine Schülerin Herrn Melber’s beschäftigt finden, aber durchaus nicht stören – bitte, treten Sie ein! – in wenig Augenblicken ist Herr Melber da.“

Raban trat unter dem Vorhang, den der kleine Mann vor ihm aufhob, hinein in den hinteren Raum, dessen Mitte Melber’s Gruppe einnahm, – aber auf’s höchste betroffen blieb er stehen – sofort die „Schülerin“, die junge Dame ins Auge fassend, die seitwärts, nahe dem einzigen großen Fenster, vor einem Modellirstuhl saß und an einem großen Reliefbilde in Medaillonform arbeitete.

Sie hatte bei seinem Eintreten langsam den Kopf gewandt und ihm einen prüfenden Blick zugeworfen, dann sich ruhig ihrer Arbeit wieder zugekehrt, als ob sie eine Anrede nicht erwarte. Ihm aber hatte das flüchtige Erblicken des Profils genügt, das sich für einen kurzen Moment ihm gezeigt, um zu sehen, daß er sie selbst, die von Räthseln umgebene Gesuchte, die ärmlich aussehende Bekannte des stelzfüßigen Invaliden, die elegante Amazone, das Modell zu der Gruppe des Bildhauers vor sich habe.

Die plötzliche, so völlig unerwartete Begegnung ließ augenblicklich Raban’s Herz auf’s heftigste schlagen. Er stand eine Weile ohne den Muth, ohne die Worte zu einer Anrede zu finden. Dann stotterte er die Bitte hervor, welche sich wie von selbst auf seine Lippen drängte: die Störung, welche er verursache, zu entschuldigen.

„Sie sehen, daß ich mich nicht stören lasse,“ antwortete sie mit einer weichen wohlklingenden Stimme, und fuhr dabei ruhig in ihrer Arbeit fort – in der That kneteten ihre zierlichen, rosenroth durch den grauen Thon schimmernden Finger mit den Modellirhölzern weiter an den schwellenden Formen der zwei spielenden Kinder, welche sie auf ihrem Relief ausarbeitete.

„Dürfte ich aber auch auf Ihre Verzeihung rechnen, wenn ich eine Frage ausspräche, die mir sehr am Herzen liegt ...“

„Und die ich Ihnen beantworten kann?“ versetzte sie, jetzt ein wenig befremdet zu ihm aufschauend.

„Sie selbst am besten,“ entgegnete er lebhaft, „Sie tragen die Züge eines jungen Mädchens, das ich zwar seit vielen Jahren nicht sah, das ich nur gesehen habe, als es vielleicht zehn oder zwölf Jahre alt war, und das doch ganz lebendig in meiner Erinnerung steht ...“

„O, das ist viel,“ antwortete sie mit einem ironischen Tone und leisem Aufzucken der Lippen, als ob sie einen Anflug von Mißtrauen über diese Art, ein Gespräch einzuleiten, verrathen wolle.

„Und doch ist es wahr,“ fuhr er eifrig fort; „das junge Mädchen hieß Marie von Tholenstein zu Arholt und ist ...“

„Ah,“ fiel sie ihm lachend in’s Wort, „dann beglückwünsche ich Sie zu Ihrem Talente, Aehnlichkeiten zu entdecken – es konnte Ihnen bei mir nicht schwer fallen, denn ich bin ja Marie Tholenstein.“

„Sie sind es – Sie sind es wirklich – o, wußt’ ich’s doch, nur Sie könnten es sein – nur Sie könnten ...“

Er hielt inne, er fühlte, daß er im Begriff stand, in seiner Lebhaftigkeit, in der Erregung des Augenblicks etwas zu sagen, was sie für unpassend und tactlos halten würde.

„Ein gutes Gedächtniß müssen Sie aber doch haben,“ fuhr sie fort, „wo sahen Sie mich denn, als ich ein Kind von zwölf Jahren war?“

„Ich sah Sie – ich bedauere, Sie an eine etwas lächerliche Scene, in der ich keine vortheilhafte Rolle spielte, erinnern zu müssen; entsinnen Sie sich einer Mühle, in der Nähe Ihres Gutes – der Gespielinnen, mit welchen Sie sich dort unter Obhut Ihrer Großmutter befanden – und eines verlegenen Knaben, der mit einem alten Sonnenschirm – oder war es ein Regenschirm? – beschämt, verspottet vor Ihnen stand ...“

Marie Tholenstein zog leise und wie sinnend eine kleine Falte zwischen ihren Brauen zusammen.

„An der Mühle – ja, ja, ich entsinne mich dessen – es waren Juliane Fellberg und Bertha Gernspach bei mir.“

„Zwei oder drei junge Dämchen waren bei Ihnen, mit denen Sie einen Spaziergang durch den Wald gemacht – aber Sie, nur Sie waren so engelgut, meinem tief verwundeten und blutenden Knabenehrgeiz zu Hülfe zu kommen.“

Sie unterbrach ihn, indem sie mit einem fröhlichen Lächeln sagte: „Und Sie – ach, ich weiß jetzt, Sie können nur Raban von Mureck sein?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_505.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)