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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

ich nicht bei Ihnen war, ein peinvoller Kampf. Wohin führte uns diese Neigung, der wir uns überließen? – Es ward nichts zwischen uns ausgesprochen, aber wir wußten, wir fühlten Beide, bei jedem Blick, jedem Laut, jeder Berührung, wie theuer wir einander waren. – Ich bin kein gewissenloser Phantast, Emilie; ich will uns nicht in’s Elend stürzen. Ich bin ein Mann, der ernst mit sich und seinen Leidenschaften ringt. Fest sagte ich mir: bis hierher und nicht weiter! Dann fragte ich mich: was thun? Wie der gefährlichen, der wachsenden Empfindung, entgegentreten oder ihr entrinnen? – Da bot sich mir die nöthige Umkehr in der Form einer jahrelangen Trennung. – Mir wurde kürzlich von einer Compagnie zur Ausbeutung afrikanischer Goldbergwerke ein günstiges Anerbieten gemacht. Unter anderen Verhältnissen würde ich meine Stellung hier nicht aufgeben, jetzt thue ich es Ihret-, unsertwegen, Emilie. Es ist ein rettender Ausweg, den ich mit blutendem Herzen, aber getrieben von der Nothwendigkeit einer Trennung einschlage.“

„Das überlebe ich nicht!“ stöhnte sie mit verzweiflungsvollem Ausblick. „Verlassen von Ihnen, was soll ich anfangen? O, könnte ich mich, doch von Werthern scheiden lassen!“

„Scheiden, scheiden!“ rief er, das Wort aufgreifend. „Scheiden, ja, das wäre nichts als ein äußerliches Bethätigen des innerlich längst Geschehenen.“

„O sagen Sie mir, was ich thun soll? Ich gehorche Ihnen, ich will nichts, als mich Ihnen unterwerfen. Soll ich zu Werthern gehen und ihm sagen, was ich wünsche? Vielleicht wird er mich schlagen, aber was schadet das! Die Mutter –“ sie stockte plötzlich, ward roth und blaß, sagte noch einmal: „Die Mutter“ – und brach dann wieder in Thränen aus.

„Nun?“ fragte er gespannt. „Glauben’ Sie, daß Frau von Werthern Ihnen wesentliche Hindernisse in den Weg legen kann?“

„Meine Schwiegermutter,“ stammelte Emilie, „ist ein Engel; sie besitzt alle die Tugenden, welche ihrem Stiefsohne fehlen. Sie öffnete mir ihre Arme, nahm mich in ihre Obhut und ward meine Freundin. Was sie vermochte, hat sie für mich gethan. Dafür forderte sie nur, daß ich den bösen Schein meide, daß ich einen Schleier über mein trauriges häusliches Verhältniß werfe und meinem, ihrem guten Namen jedes Opfer bringe. Mit den heiligsten Eiden habe ich ihr diese Schonung zugeschworen. Ich würde sie entsetzen, wenn ich ihr von einer Scheidung sprechen wollte. Das war es, was eben wie mit Bergeslasten auf mich fiel!“

Nach einer für beide Seelen inhaltschweren Pause sagte er:

„Sie haben Recht, eine Scheidung ist etwas Verletzendes für alle Theile. Auch ich bange davor, dies Verfahren über Sie kommen zu sehen.“

„Aber was dann?“

„Ich wähnte sagen zu können: bis hierher und nicht weiter!

Aber eine neue Stunde bringt neue Gewalten in’s Spiel; treibende, fordernde, herzbewegende Empfindungen. Eben war ich noch Herr der Verhältnisse, sicher die Wogen meines Lebensstromes theilend – jetzt schlagen mir die Sturzwellen über dem Kopfe zusammen.“

„O, daß ich Sie mit mir in diese Noth bringe!“

„Emilie! Noth? Ist das, was ich für Sie empfinde, nicht trotz Allem – Seligkeit?“

„Moritz, also doch? Also wirklich?“ jubelte sie.

„Ich bin wie aus einem Kerker an’s Licht gestiegen. Vergraben in meine Wissenschaft, suchte und fand ich nur in ihr Zweck und Ziel. Plötzlich schmückt sich in der Liebe zu Dir das Leben mit ungeahntem Reize. Ich weiß, ich fühl’s jetzt: Mann und Weib können sich hienieden das Höchste sein und geben!“

„Oder das fürchterlichste Elend bereiten,“ sagte sie jammernd.

„Ja, Du hast Recht! Es ist eine Grausamkeit, Dich, liebstes Wesen, Dich, für deren Wohl mein Vaterland aufgebe, hier in dieser unwürdigen Lage hülflos zurückzulassen, seiner, des Rohen Gewalt preisgegeben!“

Emilie stöhnte in wortloser Qual.

Er schwieg, tiefbewegt und schaute rathlos vor sich hin.

„Wäre ich doch todt;“ seufzte sie, „und läge daheim auf dem elterlichen Gut in der düstern Familiengruft!“

„Ja, es wäre, besser für Dich!“

Es war ein Seufzer der Verzweiflung und zugleich der Resignation, mit dem er diesen herben Ausspruch that.

Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, sah dann plötzlich wie von einem Entschluß erfaßt auf und sagte:

„Ich will keine Eclat machende Scheidung, aber ich will Trennung; ich bleibe nicht bei ihm! Mein guter, treuer Bruder, der jetzt das elterliche Gut bewirthschaftet, verheirathet mit einer Jugendfreundin von mir, hat mir versprochen, daß er mich aufnehmen wolle, wenn Werthern mich schlecht behandle. Ich war schon oft in Leitzkau bei den Geschwistern. Sie kennen meine Liebe und Rücksichtnahme für die herrliche alte Frau hier und billigen diese Empfindung. Ich will zu ihnen, ihnen meine Lage schildern, um ihren Beistand flehen, sie sollen mich für den traurigen Rest meines Lebens bei sich behalten.“

„Wird Deine Schwiegermutter diesen Plan der Trennung billigen?“

„Ich nehme keinen Abschied von ihr; ich theile ihr meine Absicht nicht mit! Wenn sie mich wiedersehen will, muß sie auf das Gut kommen.“

„Armes Kind, wie wirst Du es ertragen, ohne Zweck und Ziel, in der Einsamkeit begraben Dein Leben hinzubringen! O, könnten wir wenigstens die kurz gemessene Zeit vorher bei einander sein! Dann nähmen wir Beide eine glückselige Erinnerung mit in unsere Verbannung!“

Sie griff dieses Wort auf, sie versicherte ihm, er werde als Gast ihres Bruders willkommen sein; sie malte ihm aus, wie abgeschieden und sicher vor Späherblicken man in Leitzkau lebe, wie Geschwister ihnen ein paar Tage Seligkeit, ein paar Tage unbefangenen Sehens, Verkehrens, sich Liebens gönnen würden.

„Und sollte auch der Tod am Ende einer solchen Himmelswonne lauern,“ rief sie leidenschaftlich, „er würde mir willkommen sein! Was gäbe es denn noch Höheres, Herrlicheres in dieser Welt zu erleben, als die genossene Seligkeit mit Dir? Dann wüßte ich, weshalb ich geboren wurde, und wollte gern scheiden!“

Sie verfolgten ihren Plan und beschlossen, Weimar zusammen zu verlassen.

Emilie meldete sich bei ihren Geschwistern, und der Bergrath kündigte seinem Hauswirth die Wohnung, löste seine Beziehungen und richtete Alles zur Abreise ein.

Als die junge Frau über ihre angegriffene Gesundheit klagte, rieth die Mutter selbst zu einem Landaufenthalte beim Bruder.

Da eben der Hof einen begünstigten Theil der Gesellschaft zu längerem Besuche auf der Ettersburg einlud, wo mancherlei Lustbarkeiten stattfinden sollten, und auch Emilie dieser Auszeichnung gewürdigt ward, trieb die sorgliche alte Dame selbst ihre Schwiegertochter, bald nach Leitzkau abzureisen, um sich die Anstrengungen der Ettersburger Fêten nicht aufzuerlegen. Sie war entzückt von dem Verhalten ihres verständigen, folgsamen Kindes, das die Freuden der Hofgesellschaften aus Rücksichten, und wie sie meinte auf ihr Zureden, opferte, und hoffte, daß sich so nach und nach immer mehr ihre gefährlichen Beziehungen zu dem jungen Herzoge lösen würden.

Herr von Einsiedel zog aus dem Werthern’schen Hause fort; er beabsichtigte die letzte Nacht im Gasthofe zuzubringen.

Der Rittmeister war vor ein paar Tagen abgereist, um eine große Hofjagd in Sondershausen mitzumachen.

Emilie hatte sich den Wagen ihres Bruders zur Stadt bestellt, sie wollte am andern Tage Weimar verlassen; diesen letzten Abend verlebte sie bei ihrer Schwiegermutter in deren wohnlichem Stübchen, aus dem sie sich so oft Trost und Liebesbeweise geholt hatte.

„Du bist wirklich sehr nervenschwach, mein liebes Kind,“ sagte die alte Dame beim Abschiede in ermunterndem Tone zu der Weinenden. „Es ist die höchste Zeit, daß Du hier fort und auf das Gut kommst. Ich empfinde ja mit Dir, mein Schäfchen, aber um so mehr lobe ich Dich und halte Dich in Ehren! Du wirst es nie bereuen, Deiner alten, besten Freundin gefolgt zu sein.“

Das war zu viel Güte von Seiten der arglosen Frau! Emilie warf sich, ergriffen von Trennungsschmerz, ihr zu Füßen, umfaßte ihre Kniee und schluchzte laut.

Frau von Werthern erschrak. „Welche Scene, mein Kind! Keine Exaltation, ich bitte; auch meine Nerven ertragen das nicht. Steh’ auf und geh’, wir sehen uns hoffentlich bald und frischen Muthes wieder!“

Emilie sprang auf, noch einmal umfaßte sie die Mutter, küßte sie leidenschaftlich und stürzte wortlos hinaus.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 497. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_499.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2022)