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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Herr und Eigenthümer von Allem gewesen, und nach dessen Tode gehöre Alles seinem Kinde, in dessen ausschließlicher Vormundschaft er zu schwelgen sich bereit hielt. Frau von Tholenstein hatte nicht vermocht, ihn von seinen Wahnvorstellungen zu heilen, und gepeinigt von der Sorge, durch die Einmischung von Advocaten und gerichtliche Verhandlungen die wunde Stelle der Welt preisgegeben zu sehn, flüchtete sie zu mir. Sie bat mich, mit diesem Herrn Melber zu verhandeln, ihm Vernunft beizubringen und einen erträglichen Vergleich mit ihm zu schließen. Die Zumuthung war nicht angenehm, aber sie war nicht abzulehnen. Herr Melber erschien eines schönen Abends bei mir, und ich hatte die Genugthuung, einen Menschen in ihm zu finden, welcher Vernunftgründen nicht unzugänglich war. Anfangs freilich war es nicht gar leicht, seine falschen Vorstellungen über die Rechtsverhältnisse zu berichtigen. Er habe lange geglaubt, sprach er, nur ein Knabe könne erben; man habe ihm aber gesagt, wenn kein Knabe da, erbe auch eine Tochter: also jetzt Melanie’s Tochter Marie. Und er sei gekommen mit dem festen Entschluß, seine natürlichen Rechte als ihr Vater geltend zu machen, als ihr zunächst berufener Vormund.

Diese schönen Illusionen, die eine gewisse Berechtigung gehabt hätten, wenn das Vermögen, um welches es sich handelte, ein Fideicommiß gewesen, ein Majorat gebildet hätte, mußte ich ihm zerstören. Die Güter waren aus ehemaligen Lehngütern längst zu völlig freier Allode geworden, und der Ehevertrag des letzten Freiherrn und der Frau von Tholenstein, sowie das Testament des ersteren gaben den Besitz und die ganze Nutznießung des sämmtlichen Vermögens in die Hand der letzteren. Außerdem hatte Melber vor dem Geschäftsmann in Prag damals, als er Marie ausgeliefert hatte, auf die Führung der Vormundschaft über sein Kind verzichtet, diese war gerichtlich der Großmutter übertragen – und für den ehemaligen Bühnenkünstler blieb nichts zu holen.

Er sträubte sich, die Thatsache gelten zu lassen, daß Arholt nicht Majorat oder Fideicommiß sei. ‚Meine Melanie,‘ sagte er, ‚meine theure, vielbeweinte Melanie hat mir immer gesagt, daß dem so sei, daß alle adligen Vermögen hier im Lande Fideicommiß seien, daß ihr Bruder Martin als männlicher Sprosse ganz allein Alles geerbt habe . . .‘

‚Wenn sie Ihnen das sagte,‘ versetzte ich, ‚so hat sie es wohl auch geglaubt und irrte gründlich darin. Viele solche Vermögen im Lande bilden allerdings Majorate, welche stets auf den ältesten männlichen Erben übergehn, und erst dann, wenn diese fehlen, auf die älteste Tochter des Geschlechts. Viele andere werden dafür gehalten, von den Familiengliedern auch so betrachtet und anerkannt und vom Vater auf den ältesten Sohn nach dem alten Brauch vererbt, obwohl sie rechtsgültig keine Fideicommisse sind; und viele endlich sind es weder, noch werden sie dafür gehalten, und zu diesen gehören – unglücklicher Weise für Sie – die Tholenstein’schen Güter. Wenn Sie meinen Worten nicht glauben, müssen Sie sich zum Amtsgericht, dem wir hier unterstehen, bemühen; man wird Ihnen den Einblick in die Grudacten nicht verweigern.‘

Herrn Melber’s Hautfarbe hatte sich während dieser Unterredung um ein Merkbares abgeblaßt; er saß vornübergebeugt in seinem Stuhle und schwieg. In mir aber stieg die Vermuthung auf, daß Melanie selbst in ihrem Gatten eine falsche Voraussetzung genährt haben könne, um ihn abzuhalten, ihrer Familie mit Anforderungen lästig zu werden, die dem Stolze derselben widerstrebt haben würden.

,Ich habe mich,‘ hob Herr Melber nach einer langen Pause und halb wie im Selbstgespräch wieder an, ‚ich habe mich so sicher darauf verlassen, daß nur der selige Martin habe erben können – so sicher – ich habe deshalb . . .‘

‚Was haben Sie?‘

Er antwortete nicht; mit tragisch gerunzelter Braue blickte er starr den Boden an.

‚Und selbst mein Recht, über das Kind, die Marie, die Vormundschaft zu führen, kann man mir absprechen . . .‘

,Sie haben darauf verzichtet – gegen die Rente, welche Ihnen gezahlt ist und vor wie nach gezahlt werden wird . . .

‚Verzichtet,‘ fuhr er wie eben halblaut fort, ‚verzichtet zu Gunsten dieses alten Weibes auf Arholt, das Alles hat, Alles nimmt, das mich zur Thür hinauswirft! ... Es müßte eine hübsche Vergeltung, eine verdiente Strafe für ihre Habsucht sein, wenn ich ihr nun sagte: Verehrte Gnädige, Muster aller Schwiegermütter, wenn Sie in mir einen Thoren, einen Theaterhanswurst sehen, so irren Sie – die väterlichen Rechte über sein Kind giebt ein Mann von Herz und Gefühl nicht auf – über das, was Ihnen da ausgeliefert ist, über diese Marie, die Sie als Ihre Enkelin herzen, habe ich auf die Vormundschaft verzichtet . . . wer sagt Ihnen denn aber . . . wer sagt Ihnen . . .‘

Betroffen horchte ich auf. ‚Nun, was?‘ rief ich aus, als er nicht fortfuhr.

Aber er schwieg, sein Kinn nachsinnend auf den Arm stützend, mit seinen dunklen, erloschenen und tiefliegenden Augen auf das Bild unseres geharnischten Vorfahren blickend, das ihm gegenüber über dem Sopha hing.

‚Diese stolzen Narren, diese hochmüthigen Rassemenschen,‘ murmelte er, ‚mit ihrem verrückten Glauben an ihr Blut! Was wissen sie von ihrem Blut; was weiß die alte Frau, die Alles an sich gerissen hat, von dem Blut in den Adern eines Kindes, das man ihr gebracht hat?‘

‚Und das denn doch auch wohl ihrer Tochter Kind ist, Herr!‘ fuhr ich erschrocken ihn an.

‚Gewiß,‘ sagte er boshaft, und wie schadenfroh über mein Erschrecken mich anblinzelnd; ‚gewiß, gewiß! Aber wenn ich nun so schlau gewesen wäre – es wäre doch möglich, daß meine Melanie mir eigentlich und in Wahrheit einen Knaben geboren hat – wenn ich so schlau gewesen wäre, ihnen ein beliebiges, irgendwo bei ärmsten Eltern geborenes und aufgelesenes Mädchen auszuliefern, um mir dagegen vorläufig die Zahlung meiner Pension zu sichern . . . mir meinen Knaben aber reservirt hätte – Sie wissen, ich habe lauge in der Voraussetzung gelebt, daß ein Knabe nur erben könne, erben müsse . . .‘

‚Aber Martin war ja da,‘ rief ich in wachsendem Erschrecken aus.

‚Martin? Nun ja – aber er konnte sterben. Eben deswegen!‘

,Und also – gehen Sie heraus mit der Sprache – heraus damit, Herr – haben Sie oder haben Sie nicht der Frau von Tholenstein ein Kind untergeschoben, das gar nicht ihrer Tochter Kind ist?‘

Er lächelte – er lächelte mit einem Gesicht, das ich in diesem Augenblick hätte ohrfeigen mögen, so unaussprechlich gemein, widrig, boshaft erschien es mir. Und mit diesem schadenfrohen Lächeln sagte er:

‚Wenn ich es gethan hätte und jetzt den Knaben brächte, würde es nicht gründlich die Sachlage ändern? Würde es nicht heillos der Alten auf Arholt die Rechnung verderben?‘

‚Es wäre denn doch zu ungeheuerlich, Herr – es wäre ein Bubenstück, das die alte Frau tödten müßte . . .‘

‚Man könnte,‘ fuhr er mit seinem dämonischer Lächeln fort, ‚man könnte mir dann doch die Führung der Vormundschaft nicht verweigern! Oder könnte man es dennoch, wie? Ich habe auf die Vormundschaft des Mädchens, das ihnen ausgeliefert ist, verzichtet. Schriftlich und für immer verzichtet. Und die Gerichte haben der Alten alle Macht über das Mädchen gegeben. Gesetzt aber nun, ich brächte den Knaben herbei – mein und Melanie Tholensteins echtes richtiges Kind? Wie dann? Auf meine Rechte über dieses habe ich nicht verzichtet; auf die Vormundschaft über den Knaben niemals!‘

‚Also Sie haben wirklich – in der That die unglaubliche Schlechtigkeit begangen‘ – rief ich erhitzt und diesem Menschen gegenüber ganz außer mir gerathend aus – ‚Sie haben den furchtbaren Frevel begangen, das Mädchen auf Arholt der Großutter unterzuschieben – es ist unerhört, es ist schrecklich . . .‘

,Wie Sie sich erhitzen,‘ sagte er, wie mit dem ruhigsten Gewissen von der Welt sein Kinn streichelnd – ‚sagen Sie mir lieber, was ich wissen möchte: ob es nicht die Lage der Dinge gründlich zu meinen Gunsten änderte?‘

‚Zu Ihren Gunsten? Sie wähnen das? Sie wähnen, daß eine solche That für Sie glückliche Folgen haben könne? Man würde einfach . . .‘

Ich unterbrach mich. Ich fühlte, daß ich im Begriffe stand, etwas sehr Unheilvolles auszusprechen. Ich hatte die Worte auf den Lippen: ‚man würde Sie einfach wegen des Verbrechens der Unterschiebung eines Kindes ins Zuchthaus bringen! Aber ich

begriff im selben Augenblicke, daß solch eine Ankündigung ihn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 490. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_490.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2022)