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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

No. 30.   1884.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Herrin von Arholt.
Novelle von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Von diesem Menschen, der Melber hieß,“ las Raban in dem Briefe seines Vaters weiter, „ließ Melanie Tholenstein sich umgarnen, sich seine wirkungsvollsten und rührendsten Effecte vorspielen und verirrte sich bis zur Verlobung mit ihm und zu allen möglichen Treuschwüren, denen zunächst die erregtesten Scenen mit der Tante im Stift gefolgt sein mögen – bis diese Tante, der Leidenschaft des unglücklichen jungen Mädchens gegenüber ohnmächtig, die Mutter Melanies zur Hülfe herbeirief. Frau von Tholenstein machte sich sofort auf den Weg – aber sie fand ihre Tochter nicht mehr in Prag – die verliebte Thörin hatte es vorgezogen, vor ihrer Ankunft mit ihrem Helden die Flucht zu ergreifen. Als die arme Frau tiefbekümmert nach Arholt heimkehrte, waren der einzige Trost, den sie mit sich heimbrachte, ein Paar Briefe Melanie’s aus einer ungarischen Stadt. Sie versicherte darin, daß sie glücklich und mit Melber getraut sei, daß dieser eine gute Stellung bei einem deutschen Theater in Ungarn gefunden, daß man sich um sie nicht grämen solle, und so weiter. Die Mutter hatte in ihrer Empörung sich lange nicht zu einer Antwort entschließen können; dann gewann doch die Sorge um die Tochter die Oberherrschaft im Mutterherzen, sie nahm den Briefwechsel wieder auf, sandte Unterstützungen – und reichlichere von dem Augenblick an, wo Melanie ihr die Mittheilung gemacht, daß sie im Begriff sei, Mutter zu werden, daß sie leidend geworden, daß ihr Mann sein erstes befriedigendes Engagement verloren und sich unstet in neuen ungenügenderen Stellungen aufreibe und umhertreibe.

Die Mutter Melanie’s las zwischen den Zeilen dieser Mittheilungen, daß ihr armes Kind in einen unsäglich elenden Zustand gerathen. Der Entschluß, Alles zu thun, um sie diesem zu entziehen, lag nahe – es wurde mit der Tante Stiftsdame darüber verhandelt, wer von den zwei Frauen selber nach Ungarn reisen solle, um Melanie zurückzuholen – da kam ein Brief des Herrn Melber auf Arholt an, welcher dieser Frage kurz ein Ende machte. Herr Melber meldete, daß seine Gattin Melanie von einem gesunden Mädchen entbunden, aber in Folge dessen zwei Tage nach der Geburt gestorben sei. Das Kind befinde sich wohl, es habe in der Taufe den Namen Marie erhalten. Er behalte sich alle seine Rechte vor und werde seiner Zeit sich weiter darüber äußern. Damit schloß der Brief.

Frau von Tholenstein und die Stiftstante hatten, nachdem sie den Schmerz über die erschütternde Nachricht überwunden, jetzt nur den einzigen Gedanken, das Kind Melanie’s in ihre Obhut und Pflege zu bekommen. – Dieses Kind war ja jetzt, da an Martin’s Verheirathung nicht zu denken war, die einstige Erbin von Arholt, auf ihm beruhte die ganze Zukunft der Familie. Es durfte nicht in den Händen eines fahrenden Komödianten in einem fernen Lande bleiben. Durch einen Prager Geschäftsmann gelang es auch in der That, den Vater des Kindes willig zu machen, das letztere der Großmutter auszuliefern, und zwar gegen eine bescheidene Jahresrente, welche ihm dagegen zugestanden wurde. Melanie’s Kind wurde von dem Geschäftsmann und einer Kammerfrau der Stiftsdame in Prag in Empfang genommen und dann nach Arholt gebracht.

Als es heranwuchs, von der Großmutter wie ihr Augapfel gehütet, und sich in liebenswürdigster Weise entwickelte, kam jene bei unserem Könige mit der Bitte ein, daß ihre Enkelin den Namen Melber fallen lassen und den ihrer Mutter von Tholenstein auf und zu Arholt führen dürfe, was ihr um der Erhaltung eines so achtbaren historischen Namens willen ohne Schwierigkeit bewilligt wurde.

So standen die Sachen – und für die Welt stehen sie noch jetzt so – bis Marie Tholenstein neun Jahr alt geworden; in dieser Zeit bekam Onkel Martin an einem schönen Sonntagnachmittag in der Dorfschenke einen heftigen Schlaganfall, von dem er zwar leidlich genas, der sich aber nach zwei Monaten mit tödtlicher Wirkung wiederholte. Mehrere Wochen nach seinem Tode war es, als Frau von Tholenstein meine Freundschaft in Anspruch nahm und mir ihr Vertrauen in ihren Angelegenheiten schenkte. Was sie dazu bewog, war das Folgende:

Bisher hatte es in unserer Gegend geheißen, Melanie Tholenstein sei in Oesterreich irgendwo mit einem Vetter desselben Namens verheirathet gewesen und mit Hinterlassung der jetzt von der Großmutter erzogenen einzigen Tochter gestorben. Bei dem Familienstolze der alten Dame war dieser alles daran gelegen, daß diese landläufige Deutung der Dinge, mit der man sich in einem so arglosen Lande, wie dem unserigen, gern zufrieden gab, unangetastet und ununtersucht bleibe. Nun aber war plötzlich und ganz unerwartet die seit langem verschollene Größe, der Heldenspieler Herr Melber, blühend und daseinsfroh, wie es nur von solch einer ehrenwerthen Persönlichkeit vorausgesetzt werden kann, bei der erschrockenen alten Dame auf Arholt erschienen. Er hatte

von dem Tode Martins vernommen und mit den verworrenen Rechtsbegriffen, welche die Köpfe solcher Menschen erfüllen, sich eingebildet, Martin, als männlicher Sprosse des Hauses, sei der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 489. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_489.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2022)