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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

wir uns vergegenwärtigen, daß eben dies Schützenwesen die starken Wurzeln seiner Kraft in unserem Volksthume, im deutschen Bürgerthume hat, als der letzte Rest jener allgemeinen Waffenfähigkeit, wie sie im Mittelalter den Bewohnern der Städte zustand und wie sie diesen gegen die damaligen Uebergriffe von Seiten des Adels und auch so mancher Fürsten unentbehrlich war. Was den Rittern auf ihren Burgen Schwert und Speer, das war dem schlichten Bürgersmann in jenen Zeiten bis zur Einführung der Schußwaffen vor Allem seine Armbrust; diese stets geschickt zu handhaben, mußte der auf seine Selbstständigkeit bedachte Bürger sich ebenso angelegen sein lassen, wie der Ritter die Handhabung von Schwert und Speer. Und was den Rittern ihr Turnier war, ein Wettkampf um den Preis, wer es im Waffenhandwerke am weitesten gebracht, das war den Bürgern des Mittelalters und noch der folgenden Jahrhunderte ihr Freischießen, an dessen Stelle jetzt als größeres Fest, als Verbrüderungsfest aller deutschen Schützen die deutschen Bundesschießen getreten sind. Als dann der Gebrauch des Schießpulvers immer allgemeiner wurde, da schritten auch die alten Schützengilden wacker mit dem Zeitgeiste fort, und neben der Armbrust, von der sich manche nicht trennen mochten, fand auch bei den Schützen mehr und mehr die Büchse Eingang. Gerade zu jener Zeit, als sich diese Umwandelung mit Erfolg vollzog, stand das deutsche Schützenwesen auf seinem Höhepunkte, und wie jetzt die deutschen Bundesschießen den Betheiligten als Preiskämpfe und Verbrüderungsfeste zugleich dienen, so damals die deutschen Freischießen, welche irgend eine Stadt veranstaltete und zu denen befreundete Fürsten, Adelige und Städte geladen wurden; nur daß natürlich die Betheiligung an solchen Festen von auswärts damals noch keine so große war wie jetzt.

Gruppe aus dem projectirten Festzug: Freischießen im 16 Jahrhundert0Originalzeichnung von L. Frenzel.

Trotzdem liefert unter Anderem die von Johann Fischart erzählte Geschichte von dem Topfe mit warmem Hirsebrei, den die Züricher in rascher Fahrt mit zum Straßburger Freischießen brachten, schon einen Beweis, wie auch die Bewohner ferner liegender Städte sich gern zu solchem Freischießen einstellten, und wenn jene Geschichte andeuten soll, daß die Züricher auch in der Stunde der Gefahr so rasch hülfsbereit in Straßburg sein könnten, so hielten ja die Schützen dieser Städte, hielten die Städte selber, wenn Noth an den Mann ging, treu zusammen. Daß sie dies aber im Kriege thun konnten, dazu trugen eben jene alten Freischießen, wie sie unter diesem Namen in der Schweiz noch jetzt fortbestehen, redlich das Ihrige bei, und bei diesen Festen ward manches Schutz- und Trutzbündniß zur Abwehr gemeinsamer Gefahr geschlossen, vor Allem aber lernten die Bürger der verschiedenen Städte bei solchen festlichen, fröhlichen Gelegenheiten einander kennen und werthschätzen.

Kein Wunder daher, daß diese Freischießen weit und breit sich großer Beliebtheit erfreuten, und es war ein besonders glücklicher Gedanke, daß das Festcomité zum diesmaligen Bundesschießen beschlossen hat, dem Festzuge, welcher am 20. Juli, von dem Herold der Stadt Leipzig geführt (vergl. unsere Anfangsvignette), sich durch die Straßen von Leipzig nach dem Schießplatze bewegen soll, zwischen die verschiedenen Schützenabtheilungen eine Anzahl historischer Gruppen einzureihen. Die interessanteste von ihnen wird jedenfalls die von L. Frenzel hier im Bilde vorgeführte sein, welche einen Zug der Schützen zu solch einem Freischießen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts darstellt. An der Spitze dieser Zuggruppe marschiren vier Trompeter, denen der Stadtvogt folgt. Hieran reihen sich eine Anzahl Stadtknechte, hinter denen zwei Pfeifer, lustige Weisen aufspielend, einherschreiten; dann kommt der Kranzherr, eine bei solchen Freischießen unentbehrliche Persönlichkeit, hierauf Kinder mit Fahnen, ein Trommler und ein Pfeifer; den Mittelpunkt dieser Gruppe bildet die „Trage“ mit Preisgeschirr aller Art, umgeben von vier Pritschmeistern, in jener Zeit den Lustigmachern, Festdichtern, beziehungsweise Verherrlichern und auch Preisrichtern zugleich, sowie von je zwei Zielern und Canzlisten, denen sich die Rathsherren der betreffenden Stadt und unter Vorantritt von Pfeifer und Trommler der Schützenhauptmann, der Fahnenträger und die ganze alte Schützengilde mit den fremden Schützengästen anschließen, – ein jedenfalls ebenso farbenreiches wie naturgetreues Conterfei des Schützenwesens in der sogenannten guten alten Zeit, da eine Schützengilde selbst noch eine politische Macht war und Fürsten und Adel dieser Macht oft genug Rechnung tragen mußten.

Diese ehemalige politische Bedeutung der Schützengilden, sie ist freilich dahin, dank der veränderten Kriegsführung und den Schranken, welche zum Wohle des großen Ganzen der bürgerlichen Freiheit ebenso wie der des Adels und der vormaligen absoluten Gewalt der Fürsten in Deutschland mit der Zeit gezogen wurden, gezogen werden mußten. Nun, unsere jetzigen deutschen Schützen werden den Verlust der Macht, welche ihre Vorfahren besaßen, leicht verschmerzen in dem stolzen und erhebenden Bewußtsein, daß sie es verstanden, mit der Zeit gleichen Schritt zu halten, und sich begnügten, aus den glanzvollen Tagen des alten Schützenwesens nur das zu retten und zu bewahren, was zu retten war. Als dienendes Glied des großen Ganzen ist auch das deutsche Schützenthum der Jetztzeit von hoher, nationaler Bedeutung, und so dürfen die deutschen Schützen wie ihre Vorfahren von sich sagen, daß auch sie sich bisher auf der Höhe der Zeit, auf der Höhe ihrer Zeit gehalten haben. Und solange unsere Schützengesellschaften rüstig mit dem vorwärtsdrängenden Geiste der Neuzeit fortschreiten und vor allem das deutsche Banner hochhalten, ist auch das Schützenwesen im Reich keine veraltete Einrichtung, und so wird Germania, welche, wie dies das beistehende Schlußbild zeigt, von Friedensboten umgeben, auf hochragendem Throne mit im Festzug erscheint, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt die Zahl derjenigen holden Frauengestalten sich mehren sehen, welche als Darstellerinnen der bisherigen Bundesfeststädte traulich zu ihren Füßen sitzen.Karl Siegen.     

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 482. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_482.jpg&oldid=- (Version vom 12.3.2024)