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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

ja zuweilen zeigt er sich ganz besonders thätig, muthig und unternehmungslustig.

Der aufmerksame Beobachter merkt wohl, daß etwas nicht in Ordnung sei, denkt aber, wenn er nicht Sachverständiger ist, noch lange nicht an Geisteskrankheit. Und doch ist eine solche, wenn nicht schon wirklich vorhanden, sicher im Anzuge. Die Störungen können zeitweilig oder dauernd vorübergehen, oder sie steigern sich ganz allmählich oder urplötzlich. Gut, wenn man dies bemerkt und einen sachverständigen Arzt zu Rathe zieht; schlimm, wenn man plötzlich durch einen heftigen Ausbruch, eine Gewaltthätigkeit gegen Andere oder gegen ihn selbst überrascht wird. Die Erscheinungen sind so mannigfaltig, daß wir sie unmöglich hier eingehend schildern können; wer sich darüber unterrichten will, findet Näheres, vorzüglich klar und überzeugend beschrieben, in einer kleinen Schrift von Director Koch „Psychiatrische Winke für Laien“ (Stuttgart, Verlag von Paul Neff, 1880).

Sucht man den Kranken, denn um einen solchen handelt es sich, von seinen verkehrten Ideen zu überzeugen, so mag dies zeitweilig, oder auch uur scheinbar gelingen: der krankhafte Zustand entwickelt sich trotzdem weiter und wird immer zwingender. Oder man sucht ihn durch Zerstreuungen, Gesellschaften, Theater, Reisen abzulenken und auf andere Ideen, zu anderen Anschauungen zu bringen; aber durch die neuen, vielfältigen Eindrücke wird das geschwächte Geistesorgan nur noch mehr angegriffen. Unvorsichtige Curversuche, besonders in Bädern oder Wasserheilanstalten, können das Uebel rasch zu den höchsten Graden steigern und auch die Aussichten einer endlich eingeleiteten richtigen Behandlung wesentlich trüben. Wird dagegen die Krankheit früh genug erkannt und auf geeignete Weise behandelt, was, wenn es zu Hause nicht vollkommen sicher möglich ist, alsbald in einer Heilanstalt für Nerven- oder Gemüthskranke geschehen muß, so ist in vielen, vielleicht in den meisten Fällen völlige Wiederherstellung möglich. Auch hier kommt es darauf an, sachverständigen ärztlichen Rath einzuholen und zu befolgen, bevor es zu solchen Veränderungen im Gehirn, dem Organ des Geistes, gekommen ist, die einer Ausgleichung nicht mehr fähig sind.

Venetianisches Mädchen. 0 Nach dem Oelgemälde von E. v. Blaas.

In alten Zeiten, ja selbst noch vor zwanzig und dreißig Jahren, legte man auch in Laienkreisen mit Recht großes Gewicht darauf, daß der Arzt „die Natur des Kranken kenne“, und gab deshalb viel auf den Hausarzt, der als Freund der Familie das ganze Personal, besonders die Kinder, in allen Eigenthümlichkeiten genau kennen und demgemäß auch Abweichungen von der vollen Gesundheit alsbald richtig beurtheilen konnte. Die großen Hülfsmittel der Untersuchung und die genauere Kenntniß der krankhaftell Vorgänge, womit die neuere Zeit die Aerzte ausgerüstet hat, konnten nur scheinbar jene persönliche Bekanntschaft ersetzen, da einmal die meisten Krankheiten in ihren ersten Anfängen noch nicht so sichere Zeichen geben, daß sie ohne weitere Beobachtung gleich zu erkennen sind, da ferner jene besseren Untersuchungsmethoden doch auch den Hausärzten, sofern sie mit der Wissenschaft fortschreiten, zu Gebote stehen und zu Gute kommen, und da endlich der Arzt nicht Krankheiten an sich, sondern vielmehr kranke Menschen zu behandeln oder zu curiren hat, wobei gerade persönliche und individuelle Eigenthümlichkeiten und Verschiedenheiten von der allergrößten Bedeutung sind.

Das „Curiren“. des Arztes beschränkt sich, wie die Verdeutschung dieses lateinischen Ausdrucks mit „sorgen“ oder „Sorge tragen“ klar macht, nicht auf das Verordnen von Mitteln gegen bestimmte Krankheiten, wie so manche Homöopathen in ganz unwissenschaftlicher und praktisch ungerechtfertigter Weise neben ein Verzeichniß von Krankheitserscheinungen die angeblich dagegen helfenden Arzneimittel setzen, sondern es verlangt, daß der Kranke durch die Bedrohung, Gefährdung oder Störung seines Wohlseins und Lebens zur Gesundheit hindurchgeführt werde, wozu neben den heilenden auch lindernde Mittel, die gesammte Pflege des Kranken, leibliche und psychische Einflüsse, die Sorge für volle Genesung und so viel wie möglich auch der Schutz vor den Folgen der Störung, die Wiederherstellung der Kräfte und die Verhütung der Weiterentwickelung und der Weiterverbreitung des Leidens auf andere Menschen gehört. Alle diese Aufgaben liegen dem Arzte auch dann ob, wenn ihm Heilmittel gegen die Krankheit selbst nicht zu Gebote stehen und wenn das Leben unbedingt nicht zu retten sein sollte. Daß aber alles Dies, zu der Tröstung, Beruhignng und Beschützung der betroffenen Familie, von einem befreundeten Hausarzte besser erkannt und besorgt werden kann, als von einem gelegentlich befragten oder zur Hülfe gerufenen, wenn auch noch so berühmten und ausgezeichneten Specialisten, bedarf wohl keines Beweises.

Der Specialist kann trotzdem neben dem Hausarzte sehr nützlich und sogar nothwendig sein. Der Specialist bedarf aber, da er bei der heutigen Ausbildung der medicinischen Wissenschaft und Kunst nur mit Einsetzung seiner ganzen Kraft etwas Besonderes in seinem Fache erreichen und leisten kann, in der Beurtheilung des gesammten Zustandes, der persönlichen Eigenthümlichkeiten und Verhältnisse sehr vieler Kranker des hausärztlichen Beirathes, während auch der Hausarzt in vielen Erkrankungen, deren Heilung eine specielle Ausbildung im Untersuchen und in technischer Fertigkeit nöthig macht, der specialistischen Hülfe und Ergänzung nicht entrathen kann. Zu beurtheilen, wann dies wünschenswerth ist, wird man einem gewissenhaften Hausarzte, der doch gerade durch seine persönlichen Beziehungen gleich sehr von Theilnahme und dem Gefühle der Verantwortlichkeit durchdrungen sein muß, sehr wohl überlassen können.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 480. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_480.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2022)