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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

„Wollen Sie sie erwirken?“

„Ich will es versuchen. Geben Sie mir, bitte, Ihre Karte. Den Bescheid werde ich Ihnen morgen um diese Stunde bringen.“

„Ich werde deshalb hier vorkommen,“ entgegnete Raban, ihm seine Karte gebend – „um diese Stunde also?“

„Wenn Sie sich herbemühen wollen, desto besser!“ entgegnete Wolfgang Melber. „Ja – haben Sie die Güte, zu kommen!“

Raban warf noch einen Blick auf die Gruppe und empfahl sich dann, von dem Bildhauer zum Ausgang geleitet.

Er ging, tiefbewegt von dem merkwürdigen Zufalle, der ihn gerade in diese Kunstwerkstätte geführt hatte, und nunnmehr fest entschlossen, den Faden, den er erfaßt, nicht wieder fallen zu lassen. Erhielt er am folgenden Tage einen abschlägigen Bescheid, so sollte auch das ihn nicht niederschlagen. Er gab diesem Wolfgang Melber dann einen andern Auftrag, der ihm erlaubte, den Künstler öfter zu besuchen, ihm näher zu kommen, sein Vertrauen zu gewinnen. – Raban war ganz bereit, die Bekanntschaft eines Mannes zu pflegen, der ihm persönlich doch einen mehr abstoßenden, als anziehenden Eindruck gemacht hatte, und zwar den Eindruck von einem innerlich unharmonischen Charakter, von einer jener Künstlernaturen, die als Gabe bei ihrer Geburt ein großes Talent erhalten haben, aber in ihrem Charakter nicht den Boden besitzen, auf welchem es wachsen und gedeihen könnte, kurz, bei denen das Talent wie ein schönes edles Roß ist, das einem armen Manne geschenkt wird. Der Himmel theilt eben sehr oft in solcher Weise die Rosenstämme großer Begabung an Menschen aus, deren übrige Eigenschaften einem wilden Gestrüpp gleichen, unter dem die Rosenstämme nicht zu einem blühenden Leben kommen können, sondern verkrüppeln und verdorren. Raban hatte zu wenig Welterfahrung, um sich nach einer einmaligen Begegnung sagen zu können, daß er einem solchen Charakter hier begegnet sei. Er hatte nur einen unangenehmen Eindruck von der Persönlichkeit erhalten, die so wenig von der Seelenruhe eines mit idealen Dingen beschäftigten Künstlers an den Tag legte. Freilich dachte er augenblicklich weniger daran, als an die Weise, wie der Künstler sich bedenklich gezeigt, seinen Auftrag anzunehmen – es sprach das wenigstens einen Respect vor dem Modelle des Bildhauers aus, der etwas in hohem Grade Wohlthuendes für Raban hatte. –


5.

Raban wünschte sich Glück dazu, daß er am Abend nicht im Eibenheim’schen Salon zu erscheinen brauchte; die Herrschaften folgten der Einladung zu einem Feste in einer befreundeten Familie – er konnte also Dem, was ihn vollauf beschäftigte, mit dem beglückender Gefühle dauernder Ungestörtheit nachhängen. Und doch sollte er nicht ungestört bleiben. Als er in seinen Hotelzimmer seine Kerzen entzündet hatte, überbrachte man ihm einen gewichtigen Brief – die so sehnlich erwartete Antwort seines Vaters.

Ueberrascht sah er, daß sein Vater, der sich sonst nicht gern ausführlich in Schriftlichem erging, eine ganze Anzahl von Blättern ausgefüllt hatte. Dieselben enthielten im Anfange des Briefes die Nachrichten aus der Heimath, welche Raban interessiren konnten, mit gewissenhafter Vollständigkeit, von dem Stande und Fortgang der Arbeiten zur Bestellung des Sommerkorns bis zum glücklichen Verlaufe der Staupe bei Inno, dem hoffnungsvollen jüngsten Mitgliede der Jagdmeute. Und alsdann hieß es weiter:. „Ich muß Dir nun die Frage beantworten, welche Dein letzter Brief mit einer gewissen Dringlichkeit, scheint es, enthält, obwohl ich aus Deinen Aeußerungen nicht ersehe, wodurch Du auf dieses Thema gebracht bist. Ich muß deshalb voraussetzen, daß Du, obwohl Du mir keine Andeutung darüber machst, den Bildhauer Wolfgang Melber aufgesucht hast, wie ich Dich ja darum bat, und daß dieser Herr bei Dir hat Aeußerungen fallen lassen, welche Dir für die Tholenstein’schen Familienverhältnisse ein Interesse einflößten.

Ich kann und darf Dir heute über diese Verhältnisse Alles sagen, was ich darüber weiß – natürlich im allerstrengsten Vertrauen, und ich bin froh, daß ich heute mit völligster Seelenruhe Dir den Grund sagen darf, weshalb ich in der Zeit, wo Du heranwuchsest, den Verkehr mit Arholt völlig abbrach und vermied. Der Grund, lieber Raban, war eine Sorge um Dich!“

„Um mich?“ sagte sich mit wachsender Spannung Raban – „um mich? Wie ist das möglich?“ Er las weiter.

„Ich hatte einst, in den Jahren, wo Deine arme, frühgeschiedene Mutter noch lebte, einen, wenn nicht sehr lebhaften, doch fortgesetzten Verkehr mit Denen auf Arholt. Die Familie bestand aus der verwittweten alten Dame, welche noch darauf lebt und die damals eine rüstige Frau in den besten Jahren war, ihrem erwachsenen Sohne Martin Tholenstein und einer Tochter Melanie, welche ich jedoch nur wenig gesehen habe, weil sie nur selten auf kurze Zeit bei ihrer Mutter auf Arholt erschien – sie hielt sich das ganze Jahr hindurch bei einer Tante, einer Stiftsdame, in Prag auf, auf deren Stelle im Stifte sie eine Aufnahme-Anwartschaft erhalten hatte, und die dagegen zur Bedingung gemacht, daß sie bei ihr dort lebe.

Der Mensch denkt und Gott lenkt – die Tholenstein waren sicherlich sehr erfreut gewesen, als durch der Tante Stiftsdame Verbindungen es erreicht worden, daß für des jungen Mädchens Zukunft so gut gesorgt sei, falls sie sich nicht verheirathen würde, was doch auch, da sie hübsch, liebenswürdig und von lebhaftem Temperament war, da sie ferner sich in den besten Kreisen bewegte, auch sehr möglich, ja wahrscheinlich erschien. Und doch, wie bitter hatten sie diese Fürsorge für die Zukunft zu beklagen, als sie sich nicht allein völlig überflüssig zeigte, sondern an den Aufenthalt des jungen Mädchens zu Prag, der dadurch veranlaßt wurde, sich die tragischsten Folgen knüpften.

Unnütz zeigte sich die Fürsorge für Melanie Tholenstein zunächst dadurch, daß ihr älterer Bruder Martin zu einem völligen Originale wurde, zu einem ‚Sterngucker‘, wie ihn die Leute nannten, obwohl Niemand in der Welt weniger zu den Sternen, den ewigen Lebenssternen, die ein vernünftiger Mensch in’s Auge zu fassen sucht, um sich von ihnen leiten zu lassen, aufblickte, als er. Dagegen vertiefte er sich mit wunderbarer Selbstgefälligkeit in allerlei kleinlichen Betrieb, wie ihn stupide Menschen lieben, spaltete Haare und hörte das Gras wachsen, stellte Untersuchungen über singende Mäuse an und trug im Frühlinge den Blüthenstaub von Birnbäumen auf Quittenstauden, um neue Obstarten zu schaffen. Ueber diese wissenschaftlichen Bestrebungen hielt er sehr gelehrte Vorträge den Bauern in der Schenke und war sehr stolz darauf, daß er unter diesen Leuten, die ihn verlachten, ‚das Niveau des culturellen Standpunktes‘ erhöhe. Was er zunächst dabei erhöhte, waren nur seine Lebensgeister; denn Martin Tholenstein trank mit den Bauern ihren Branntwein, und zuweilen, wenn die Sonntagnachmittagsgesellschaft aus der Kegelbahn sehr zahlreich und angeregt gewesen, bedeckend zu viel davon.

Frau von Tholenstein, seine Mutter, schüttete damals mir oft ihr kummervolles Herz aus über die seltsame Wendung, welche der Charakter ihres Sohnes, des Erben ihrer Güter und des Stammhalters der Familie nehme, der sich mehr und mehr in seinen Neigungen gehen ließ, sein Aeußeres vernachlässigte und nichts davon hören wollte, daß die Zeit für ihn gekommen, sich standesgemäß zu verheirathen. Ich that das Meinige, um sie zu beruhigen und zugleich auf Martin zu wirken und diesem die Einsicht beizubringen, wie gegründet die Vorstellungen seiner Mutter seien. Es ließ sich mit Martin Tholenstein ziemlich rund heraus und deutlich reden, ohne daß er es übel genommen und nachgetragen hätte; aber Alles, was ich erreichte, war die Entdeckung, daß es verhängnißvoll und gefährlich werden könne, Martin Tholenstein zu sehr zu einer Heirath zu ermuthigen. Martin Tholenstein hatte offenbar, wie ich aus der Wendung, die er seinen Antworten gab, schließen mußte, nun doch einige Sternguckerei getrieben – bis zur Entdeckung von zwei hübschen Augensternen im Gesichte einer Dorfschönheit, und er war am Ende im Stande, wenn man ihn wild machte, eine dralle Großmagd als Frau in das Schloß seiner Väter einzuführen.

So also war Martin Tholenstein der designirte Erbe und Stammhalter der Tholenstein zu Arholt. Leider sollte seiner bekümmerten Mutter noch größeren Gram, als er, die Tochter Melanie, die in Prag im Stifte lebte, bereiten. Was dort Alles vorgegangen, weiß ich Dir nicht genau anzugeben; ich erfuhr nur das, was Frau von Tholenstein mir etwa zwei Jahre später, nachdem sie ein Paar Mal eine plötzliche Reise nach Prag gemacht, anvertraute, und auch von diesem habe ich Manches in der langen Zeit aus dem Gedächtniß verloren. Das aber, was Frau

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 475. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_475.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2022)