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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Besitz bekommen, daß er selbst erst nach vollständiger baulicher Revolution wieder für Weiße bewohnbar sein würde. Denn wie der Chinese wohnt und schläft, so treibt er auch sein Geschäft in den engsten Winkeln, Kammern und Löchern oder auf den schmutzigsten Gassen und Durchgängen. Seine Fleisch- und Eßwaarenboutiquen starren von demselben Schmutz, wie seine Schlafstätten, Lasterhöhlen, Spielhäuser und Opiumhöllen.

Selbst das Charakteristische und Malerische, das ihre farbigen Schilder, Häuserzierrathe, Tempelembleme, Fahnen und bunte Laternen und Lampions den Hauptstraßen ihres Quartiers geben, vermag sich unter den steten Feindseligkeiten, denen der Reinlichkeitssinn und vor allen Dingen die Nase des kaukasischen Besuchers dieser Regionen auf Schritt und Tritt ausgesetzt ist, nur erst allmählich und auch da nicht immer zu einer wirklich erquicklichen Geltung zu bringen. Der Charakter des Ganzen bleibt der des Wüsten, Ungehörigen und Barbarischen.

Im Chinesenviertel von San Francisco.

Doch nun hinaus aus der Enge des wunderlichsten und ungeheuerlichsten, mit nichts als einem von Maden wimmelnden Käse zu vergleichenden Stadtgewinkels, dessen sich irgend eine Großstadt des Occidents rühmen darf! Höher hinauf – den Dünenrücken, an dem es bereits emporzukriechen beginnt, hinan – über ihn und die ihn bedeckenden Cottages und Villen hinweg, noch über zwei oder drei weitere Bergrücken fort, bis uns des Oceans unendliche Fluth entgegenschimmert! Der stolze Pacific – klippig fallen seine Gestade in schwärzlichen Massen hernieder. Eine schneeige Brandung säumt den schmalen Sandstreifen, der sich längs ihres Fußes hinzieht. Auf der Höhe einer dieser Klippen aber steht das Cliff house, ein beliebter Vergnügungsplatz, zu seinen Füßen die in graubraunem Gezack aus der Fluth aufragenden „Seelöwenfelsen“. Heiseres Gebell durchdringt die rauschende Brandung. Aus ihrem weißen Schaum aber schieben sich von allen Seiten her die ungefügen Fettleiber der erst durch ein Gesetz, jetzt durch den Willen der Bevölkerung von San Francisco vor der Kugel des Jägers geschützten Seelöwen empor, die zu Hunderten auf dem engen Raum dieser beiden Klippen hausen. Keine Stadt der Welt erfreut sich des Besitzes einer zoologischen Anlage, wie diese. Die Kosten ihrer Erhaltung trägt sie selbstredend allein und dankt das bischen Schutz, das man ihnen vor dem Robbenjäger und Schläger gewährt, durch die gewissenhafteste Vermehrung. Leib an Leib gedrängt überwimmeln sie an sonnigen Nachmittagen die Abhänge des ihnen ausschließlich gehörenden Klippenasyls. Mit einem Opernglase kann man vom Strande oder von den Veranden des „Klippenhauses“ jede ihrer Bewegungen verfolgen, und als wüßten sie es, daß sie eine der alleroriginellsten Sehenswürdigkeiten San Franciscos, ja der ganzen pacifischen Küste sind, so werden sie nicht müde, das zackige Gefelse auf und nieder zu klimmen, in’s Wasser herabzuplumpen, einander den Raum streitig zu machen, mit einem Wort einer verehrlichen menschlichen Zuschauerschaft Alles zum Besten zu geben, was diese schlechterdings nur von halbcivilisirten Seehunden verlangen kann.

Jenseits des absonderlichen Thiergewimmels aber breitet sich das Meer so ruhig und endlos dahin, als wolle es den Menschen immer auf’s Neue herausfordern, ihm den Namen beizulegen, den es doch längst schon trägt: des Stillen Oceans und des Großen zugleich.

Und nun den Blick zurück, landeinwärts gewendet! Weitab an der inneren Bai, nur eben mit ihren äußersten Vorstadtausläufern bis in den Gesichtskreis des Meeres hinausgreifend, liegt die Stadt. Was das Auge von hier zunächst überschaut, sind die Dünen, Uferfelsen und langgestreckten Bergrücken jenes Küstengebirges, welches von Panama bis nach Alaska hinauf, nur von wenigen Einfahrten und dahinter liegenden Buchten unterbrochen, das Gestade dieses größten aller Oceane säumt, einem einzigen Wall gleich! Bis zu 3000 und 4000 Fuß hoch und bis zu 40 Meilen breit dämmt es das Land gegen das Weltmeer ein. Dann fällt es zur californischen Tiefebene ab, welche, in ihrer oberen Hälfte vom Sacramento, in ihrer unteren vom San Joaquin durchströmt, in ihrer Baumlosigkeit einer handtellerflachen Steppe gleichen würde, deckten sie nicht die reichsten Ackerfelder und Weidetriften.

Von der stürmischen Jugend des einstigen Schatzgräberlandes, von dem wüsten Urkern einer aus Gold, Lastern und Blut sich aufringenden internationalen Civilisation nirgends mehr eine Spur. Gefestigte Verhältnisse und des Gesetzes unantastbare Herrschaft überall. Städte und Anwesen über das ganze Land verstreut; Eisenbahnen nach allen Richtungen der Windrose führend; längs derselben Wein- und Fruchtgärten, weite Ackerflächen, noch weitere von Heerden übervölkerte Savannen; Wohnstätten bis in die Höhe der Sierra Nevada und der Küstengebirge hinauf; die einstigen Goldgräberlager in Trümmerhaufen gesunken oder zu festgegründeten, geordneten Gemeinwesen erwachsen; das ist das heutige Gold- und Abenteurerland am Pacific.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 448. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_448.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2024)