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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Theile man aber auch durchwandelt oder auf den wunderbaren Drahtseilbahnen, die hier über Berg und Thal führen, durchfährt, – in den ebenen, von massiven Prachtbauten gesäumten Hafen- und Geschäftsstraßen, wie in den endlosen, die Dünen bedeckenden Holzhäuserfluchten: überall ist es ein fertiges, ausgewachsenes Stadtwesen, welches man vor sich hat. Nirgends mehr eine Spur von baulicher Primitivität, von jener Pionierarchitektur, welche das einstige Heerlager des alten San Francisco kennzeichnete. Viel eher macht sich die Neigung zu allerlei architektonischem Schmuck- und Schnörkelwerk geltend, wie es in Erkern, Balcons, Säulenvorbauten, Eckthürmchen und dergleichen seinen Ausdruck findet. Geradezu Muster von Solidität und Großartigkeit finden sich unter den öffentlichen Gebäuden, den Privatpalästen der Millionäre, den großen Geschäftshäusern und den Hôtels, von welch letzteren das „Palace Hotel“ selbst in Amerika, der Heimath der Riesenhôtels, nicht seines Gleichen hat. (Vergl. den illustrirten Artikel von Th. Kirchhoff, „Gartenlaube“ 1874.)

Geradezu einzig aber ist San Francisco als kosmopolitische Stadt. Nicht einmal hinter New-York steht es in der bunten, verschiedensprachigen und verschiedenfarbigen Mischung seiner Bevölkerung zurück. Leider ist damit neben einer der interessantesten Illustrationen für das weltstädtische Wesen San Franciscos auch zugleich sein wundester Fleck berührt, jener Wundfleck, der geradezu mörderisch für die herrliche Stadt zu werden drohte, als vor drei Jahren die Washingtoner Bundesregierung selbst seinem weiteren Umsichgreifen Einhalt gebot: die chinesische Invasion San Franciscos!

Es soll hier nicht vergessen werden, welchen Werth der „gelbe Mann“ Asiens, der durch das gelbe Metall Amerikas über den Stillen Ocean gelockt wurde, für das letztere als menschliches Werk- und Lastthier gehabt hat. Wie übertrieben auch die Behauptung wäre, daß Californien, wie es heute ist, vornehmlich das Resultat chinesischer Arbeit sei, ebenso ungerecht wäre es zu leugnen, daß beim äußeren Aufbau der bezopfte „John“ thatsächlich seine Hand überall im Spiele gehabt habe. Die Chinesen waren und sind noch zur Stunde die Arbeitsbienen auf diesen reichen pacifischen Fluren. In den Fabriken stellen sie das Gros der Arbeiter; ihrer bedient sich der Weinkeltner; der Getreide- und Obstbauer ruft sie zur Zeit seines Anbaues und seiner Ernten herbei, und endlich sind sie im Küchen- und Hausdienst unerläßlich. In Massen und ganzen Arbeitertrupps aber haben sich diese vielbefehdeten Söhne des himmlischen Reiches erst recht verwendbar und in Folge dessen auch erst recht unentbehrlich erwiesen.

Das sind Thatsachen, an denen nicht leicht zu rütteln ist und die gar manches beweisen. Unter Anderem auch das Eine: daß es nicht die Masse allein ist, durch deren Verwendung der Chinese ein Culturelement in den pacifischen Gebieten geworden ist, sondern daß auch der Einzelne ein fleißiger, stiller, unermüdlicher Werkmann ist, daß er Geschick mit Geduld verbindet, und daß er um Vieles billiger, und ungleich lenksamer ist, als der kaukasische Durchschnittsarbeiter Californiens. Aber diese sich auf den ersten Blick und namentlich von der Ferne aus so sauber ausnehmende Medaille hat ihre Kehrseite. Und diese Kehrseite ist nicht nur das Gegentheil von Sauberkeit, sondern sie ist dies auch in solchem Grade und in solcher Ausdehnung, daß man sie nur einmal zum Gegenstand eigener Anschauung zu machen nöthig hat, um die Erbitterung vollkommen zu verstehen, mit der die gesammte pacifische Bevölkerung gegen die fernere Chineseneinwanderung kämpfte, bis dem Congresse das gesetzliche Verbot derselben auf zehn Jahre abgerungen war. Eine einzige Stunde im „Chinatown“, im Chinesenviertel San Franciscos genügt, um, ganz abgesehen von allen Lohnfragen und Arbeitsproblemen, auch im menschenfreundlichsten Gemüthe diese Ueberzeugung wachzurufen. Eine einzige Stunde – vorausgesetzt natürlich, daß sie nicht blos einem oberflächlichen, etwa nur den Curiositätenläden, Tempeln, Theehäusern[1] und dem Theater „John Chinamans“ geltenden Gang durch die Hauptstraßen dieser Chinesenstadt auf amerikanischem Boden gewidmet wird. Nein, man muß an der Hand eines Detectivs, der in allen Mysterien dieses Labyrinths von Uebervölkerung, Schmutz, Pestluft, Laster und Ungesundheit zu Hause ist, in die Seiten und Schlupfpfade desselben und von ihnen in seine Höhen und Tiefen dringen. Dann erst erfährt man, wie der als Arbeiter in Massen so werthvolle Chinese in Massen lebt, und wie er gerade den Boden jenes Landes, das seinen Zuwanderern die freiesten und weitesten Tummelflächen bietet, dazu benutzt, um auf ihm das unheimliche Problem zu lösen, welches Minimum von Raum und Lebensluft und welches Maximum von Schmutz der Mensch ertragen kann.

Beschreiben läßt sich das nicht. Aus einem regelmäßigen und schönen Stadttheile hat diese chinesische Invasion nicht nur die gesammte weiße Bewohnerschaft, sondern auch jede Erinnerung an den Comfort, an die nothwendigsten Einrichtungen, ja an die Menschenwürdigkeit vertrieben. Wo es früher Räume und Zimmer gab, giebt es heute nur noch Löcher und Unterschlüpfe. Als Schlafgelasse aber dienen hölzerne Verschläge, die, gleich Schiffskojen oder Hühnerställen drei- und vierfach über einander gefügt, nur in der Mitte der jetzt von ihnen angefüllten Räumlichkeiten einen engen, krummen Gang freilassen, durch den sich ein erwachsener Mensch nur eben durchwinden kann. Und überall reichen diese Verschläge hin: bis unter die Dächer hinauf, bis zwei und drei Stockwerke unter die Erde, wo der Zimmermann zum Maulwurf wird, um immer neuen Raum für diese menschlichen, den Tag über fleißig arbeitenden Wesen zu gewinnen, die sich hier für die Nacht, lebenden Leichnamen gleich, verkriechen und vergraben. Und dazu überall der süßlich widerliche Geruch des Opiums, den man, einem Schiffsgeruche gleich, noch tagelang nach einem Besuche dieser Schlafspelunken nicht aus der Nase bekommt. Und überall ein Schmutz, der in feuchtklebrigen Massen die Wände bedeckt, der den Fuß auf Schritt und Tritt ausgleiten läßt, der die geschwärzten Verschlagsbretter, zwischen denen man sich nur gebückten Hauptes dahinschieben kann, überzieht und überschleimt! Genug davon, der Ekel hat auch seine Rechte, welche die Feder des Schilderers zu respectiren hat!

Wie zahlreich das menschliche Gewürm ist, welches allnächtlich die Unterschlüpfe dieses Chinesenquartiers durchwimmelt und dort für Miethpreise, die bis fünfzig Cents per Monat heruntergehen, „bei sich“ ist? – wer will es sagen! Haben doch die San Franciscoer Behörden selber noch nie so recht dahinter kommen können oder wollen! Aber in welchem Maß es mit jedem Jahr seit der Gründung dieses mongolischen Ghettos angewachsen ist, das beweist mit erschreckender Unwiderleglichkeit die nach allen Seiten hingehende rapide Ausbreitung dieses mörderischen städtischen Gemeinschadens, welche es sehr wohl gerechtfertigt hätte, wenn derselbe schon längst mit einer im wahrsten Sinne des Wortes chinesischen Mauer umgrenzt und gewaltsam in diese Grenzen eingezwängt worden wäre. Allerdings ist es mehr als fraglich, ob selbst durch eine solche Mauer dieser Zweck hätte erreicht werden können. Denn wie sich diese menschlichen Maulwürfe und Kellerwürmer durch zwei und drei unterirdische Stockwerke in die Erde hineinwühlen, ja sich sogar Gänge, die wieder von den allgegenwärtigen Schlafverschlägen eingesäumt sind, unter den Straßen hinweggraben: so würden sie auch unter jeder Mauer weg, die nicht mindestens haustief fundamentirt wäre, in die übrige Stadt vordringen. Der Unfehlbarkeit dieses stillen, geräuschlosen, man möchte sagen, elementaren Vordringens der Chinesen aber entspricht ganz genau diejenige, mit welcher die weißen Bewohner der Stadt widerstandslos die Nachbarschaft der gelben Eindringlinge räumen. Und da sie bei dieser Flucht stets dafür sorgen, daß zwischen der neuesten chinesischen Eroberung und ihnen mindestens zwei oder drei leere Häuser bleiben, so können die unternehmenden Zopfträger sich still und unmerkbar auch über diese, die außer ihnen absolut keine Miether finden würden, verbreiten, um das Geschäft der Weißenvertreibung mit einer geräuschlosen Unwiderstehlichkeit fortzusetzen, welche in der Geschichte der Rassenkämpfe ohne Gleichen dasteht.

Auf solche Weise haben diese asiatischen Eroberer San Franciscos nicht nur einige der wichtigsten früheren Hauptstraßen der Geschäftsstadt, sondern zwischen diesen und um sie herum einen ganzen ansehnlichen Stadttheil derartig in ihren ausschließlichen


  1. In dem durch Schmutz und allerlei Winkelwerk ausgezeichneten Chinesenviertel finden sich einzelne bessere Kaufläden, Restaurants, Theater und Theestuben, welch letztere sich mitunter durch peinliche Sauberkeit und Eleganz auszeichnen. Wände und Decken sind mit reichem Schnitzwerk und Goldschmuck versehen, mit Ornamentik und Rankenwerk schwer überladen. Alles ist polirt und blank; bunte Papierlaternen und moderne Kronleuchter verstreuen ihr abgedämpftes Licht über die behaglich ihre Pfeifchen schmauchenden Gäste, denen die bezopften Aufwärter in zierlichen kleinen Tassen den Thee, Chinas Nationalgetränk, credenzen. (Vergl. Illustration S. 445.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 447. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_447.jpg&oldid=- (Version vom 11.3.2024)