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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

aus einer knabenhaften Verlegenheit erinnerte und an jenes erste Aufdämmern eines ebenso knabenhaften Verliebtseins, den ersten Anhauch eines Gefühls, der so rasch dahingegangen wie der Hauch eines Kindermundes auf einen Spiegel. Aber er mußte daran denken, und zugleich verließ ihn der Gedanke an das Schicksal der auffallend schönen und graziösen Erscheinung nicht, die in so verdächtiger Unterhaltung mit der Alten dagestanden, und ein Gefühl unendlichen Mitleids überkam ihn über die Tausende von Wesen, die in diesem großen wilden Weltgetriebe wie arme schwache willenlose Körner auf die Räder eines erbarmungslosen Mühlwerks geschüttet und darin zu Staub zermalmt werden.

Als Raban am Ende des Rings angekommen war und noch einen Blick auf die schöne Architektur des Gewerbemuseums geworfen hatte, wandte er sich, schritt quer über die Straße und ging den Weg, den er gekommen, nun an der andern Seite der Straße zurück bis zu den Anlagen des Stadtparks, durch welche er nun, linkshin abschweifend, seinen Weg nahm. Als er an das Ende derselben, in denen der Lenz schon an allen seinen Blüthenwundern wirkte, gelangt, fiel sein Blick auf eine ihm halb noch durch Gesträuch verborgene Bank, auf welcher ein eisgrauer alter Mann mit einem weißen Schnurrbart vornübergebeugt den warmen Sonnenschein auf sich wirken ließ. Neben ihm, auf der Bank aber, wie eifrig ihm zuredend, saß zu Raban’s Ueberraschung dasselbe schlanke junge Mädchen – dasselbe junge Mädchen, dessen Erscheinung ihn vorhin betroffen gemacht und das so nun noch einmal vor ihm auftauchen sollte! Er faßte zuletzt ihre Züge voll in’s Auge, und wieder kam ihm auf’s lebhafteste die Erinnerung an seine Knabenbekanntschaft; jetzt um so stärker, als sie mit einem offnen Aufschlag der Augen seinem Blicke begegnete – es waren Augen, die ihn wie mit einem Zauber, welcher Vergangenheit zur Gegenwart machte, anleuchteten! Aber gleich darauf auch blickte sie zur Seite, auf ihren Gesellschafter – Raban sah jetzt, daß der alte Mann einen Stelzfuß trug – und wandte ihre Züge von dem Vorüberwandelnden ab.

Vielleicht ist der alte verstümmelte Invalid ihr Vater . . . wahrscheinlich ist er es, dachte Raban; und sie hat ihn vielleicht zu ernähren, hat für sich und den alten Mann zu sorgen, und hat schwache Arme und weiche Hände! Es kam ihm das heftige Verlangen, sich der armen Person, wenn sie es wirklich bedürfen sollte, anzunehmen und rettend in ihre Lage einzugreifen – eines jener Verlangen, welches beim Anblick fremder Noth und fremden Kummers ja leicht in uns emporsteigt, für Augenblicke uns beschäftigt, auch wohl über die Mittel und Wege dazu nachdenken läßt und dann, bevor aus dem Gedanken etwas wie eine That geworden, von andern Eindrücken verwischt und vergessen wird.

Eine That folgte aus der Begegnung Raban’s mit dem jungen Mädchen, das ihn so lebhaft in frühere Tage versetzt hatte, aber doch. Er schrieb’ am Abende noch an seinen Vater und bat diesen um eine Aufklärung, weshalb er eigentlich seit so viel Jahren den Umgang mit der ihm doch nahe benachbarten Familie auf Arholt vermieden habe.




2.

Als der Brief geschrieben war, machte Raban Toilette, um im Salon der würdigen Dame zu erscheinen, bei der er, seit er nach Wien gekommen, die meisten seiner Abendstunden zubrachte, als erklärter, wenn nicht Verlobter, doch Verehrer ihrer zweiten Tochter. Er hatte Leni von Eibenheim im vorigen Herbst auf einem Gute in seiner Heimath kennen gelernt, wo sie ein Paar Wochen hindurch zum Besuche gewesen – ihre glänzende Erscheinung hatte ihn angezogen und gefesselt, ihre Bildung war ihm außergewöhnlich erschienen, so gründlich und vielseitig, verglichen mit der Bildung der ihm bekannt gewordenen Töchter des Landes; dabei hatte ihr Wiener Dialekt, die Freimüthigkeit, womit sie sich aussprach, das natürliche frische Wesen der Süddeutschen etwas so Reizendes für ihn gehabt, daß er ihr leidenschaftlich den Hof gemacht. Und nun, nachdem der Vater sich mit Muße und Gründlichkeit nach den Verhältnissen der Eibenheims zu erkundigen Zeit gehabt, war er nach Wien gekommen, um sich von dorther die Frau zu holen, die „es ihm angethan“, deren Stammbaum seinen Vater mit der nöthigen Achtung erfüllte.

Im Salon der Frau von Eibenheim überwog das aristokratische Element, ohne andere auszuschließen, ohne namentlich das gelehrte, das literarische, das künstlerische „hintan zu halten“. Ein dreimal neu aufgelegter Dichter war der, der das Privilegium hatte, die Gesellschaft mit Anekdoten aus seinem Verkehr mit erstaunlich viel Fürstlichkeiten und Hoheiten zu unterhalten, und ein Custode des kaiserlich königlichen Antiken- und Münzcabinets, der als erste Autorität auf dem Gebiete der Kenntniß alter Pfennige, Groschen und Heller galt; dann ein Professor, der das berühmteste Buch üher Moose, Flechten und ähnliche Parasitenbotanik geschrieben hatte. Die geistige Bedeutung hob hier auf denselben Rang wie die Geburt und der Reichthum, und natürlich und folgerichtig gab sie ganz vorzugsweise die Berechtigung, für die Unterhaltung zu sorgen und das Wort zu führen. Als Raban eintrat, war es eben der Custode, der, mit seinem langen Rücken, an eine Ecke des Kaminsimses gelehnt, es führte und den auf niederen Sesseln im Rundkreise um die Flamme sitzenden Damen von den oft so sinnreichen Devisen erzählte, welche man vielfach auf den Denkmünzen des fünfzehnten bis siebenzehnten Jahrhunderts finde.

„Ich bitte Sie, Doctor,“ unterbrach ihn dabei herantretend ein Graf Kostitz, ein pensionirter Cavalleriemajor; „suchen Sie mir aus allen diesen Sinnsprüchen nur einen einzigen aus, der sich zu einem schlagenden geflügelten Wort verwenden ließe.“

„Ach, Kostitz, Sie haben immer noch nicht Ihr geflügeltes Wort gefunden?“ rief lachend die Baronin Eibenheim, die Hausfrau.

„Wie sollt’ ich!“ versetzte er. „Zwischen uns und die Unsterblichkeit haben bekanntlich die Götter den Schweiß gesetzt.“

„Und zur Unsterblichkeit wollen Sie sich aufschwingen auf den Fittigen geflügelter Worte?“ sagte der Dichter.

„Geflügelter Worte? Bei Gott, ich wäre zufrieden, hätte ich nur eines an der Schwungfeder erfaßt! Nur Eines!“ entgegnete spöttisch lächelnd Graf Kostitz. „Haben Sie das nicht längst erkannt, daß die einzige Art und Weise, wie der Mensch auf die Nachwelt kommt, das geflügelte Wort ist, das er ihr hinterläßt? Glauben Sie denn, die Nachwelt werde sich Ihre Gedichte vorlesen lassen? Nein, man wird fragen; was Sie gesagt haben, und wenn Niemand darauf antworten kann, so werden Sie gründlich verschollen sein. Glauben Sie, man werde viel Zeit haben im zwanzigsten Jahrhundert, alle Bücher zu lesen, sich mit vorübergegangenen Menschen und Dingen zu beschäftigen? Wahrhaftig nicht! Aber man wird von Oxenstierna wissen, daß er gesagt hat: Mein Sohn, u. s. w,, von Talleyrand, daß er seine eigenthümliche Ansicht über den Zweck, wozu uns die Sprache gegeben sei, hatte, von Shakespeare, daß er der Erfinder des großen Worts: ‚Sein oder Nichtsein‘ war, und in dem Einen: „Ist Alles schon dagewesen“ wird sich das Andenken an Rabbi Akiba, an Uriel Acosta und an Karl Gutzkow zusammt der ganzen modernen Literatur zusammenziehen, verdichten, krystallisiren. Sehen Sie das nicht deutlich voraus?“

Man lachte, und machte nun dem Grafen scherzhafte und spöttische Vorschläge zu einem geflügelten Wort.

Raban hatte sich unterdeß zu Leni gewandt, die neben einer verheiratheten älteren Schwester auf einem Divan im Hintergrunde saß und mit ihr über ein Modekupfer sich berathen hatte. Leni schob das Heft von sich, und indem sie ihre schöne volle Büste emporhob und Raban mit ihren glänzenden, verheißungsvollen braunen Augen anblickte, wollte sie wissen, wie er den Tag zugebracht.

„Höchst gewissenlos,“ versetzte Raban, „ich habe in mein Bildungsconto nicht einen einzigen Posten einzutragen gehabt; weder ein Museum, noch eine Bildergallerie, noch ein Künstleratelier, noch sonst eine ausgesuchte Merkwürdigkeit; ich bin einmal wieder der Philosoph aus der Sperlingsgasse gewesen und habe den Tag mit Träumen und ‚Beobachten‘, um es euphemistisch auszudrücken, hingebracht – das heißt als Müßiggänger.“

„Na,“ versetzte Resi, die ältere Schwester, die an einen Sohn der Gräfin Lorbach verheirathet war, einen Reichstagsabgeordneten von der feudalen Partei, „das spricht für Sie, Herr von Mureck, das heißt wenn wir gutmüthig genug sind, es als Galanterie für uns auszulegen …“

„Du meinst, Resi, Herr von Mureck wolle damit sagen, daß es keine andere Merkwürdigkeit für ihn hier gebe als …“

„Was?“ fiel Resi ein, „das wäre ein zweifelhaftes Compliment; zu den Stadtmerkwürdigkeiten möchte ich doch nicht gehören – ich bedanke mich. Ich meine nur, es ist viel löblicher, Abends in der Gesellschaft mit frischen Geisteskräften zu erscheinen, als todtmüde von allerlei Studien, erschöpft von allerlei überflüssigen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 443. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_443.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2022)