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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Gründung an war die Einwanderung stets im Wachsen. In der Zeit von 1633 bis 1640 liefen jährlich durchschnittlich 20 mit Ansiedlern beladene Schiffe die Küsten von Neu-England an. Im Sommer von 1635 allein stiegen dort 3000 neue Einwanderer an’s Land. Im folgenden Jahre kamen nahezu 4000. In den Sommer von 1635 fiel eine der bedeutsamsten Gründungen, die von Rhode-Island mit dem Hauptort Providence an der Narragansettbai durch Roger Williams. Das war einer der hellsten Geister und, edelherzigsten Menschen seines Jahrhunderts, in Wahrheit eine der Grundsäulen, auf welchen die religiösen und politischen Einrichtungen der großen transatlantischen Republik ruhen. Mit nur 13 Gefährten that der Treffliche, den die starr-orthodoxen Puritaner von Massachusetts verfolgt und vertrieben hatten, unter Hunger und Kummer Providence auf als eine Zufluchtsstätte der Glaubens- und Denkfreiheit, der religiösen Duldsamkeit, fünfzig Jahre früher, als William Penn seine Kolonie Pennsylvanien ebenfalls zu einem Asyl der Toleranz machte[1]. Weiterhin wurden die Ansiedlerstaaten Connecticut, New-Hampshire und Maine gestiftet. Und mehr und mehr erstarkten diese sämmtlichen Gemeinwesen in ihrem Innern, mehr und mehr erweiterten sie ihre Gebiete nach außen, mehr und mehr wuchs in ihnen das Gefühl der Kraft und Selbstständigkeit. In diesen der Wildniß abgerungenen, auf religiöse Begeisterung, harte Arbeit und strenge, ja herbe Sittlichkeit begründeten Pflanzstaaten entwickelte sich immer zuversichtlicher der demokratische Geist und bildeten sich die Formen des Selfgovernments immer entschiedener und kräftiger aus.

Zur Zeit, als daheim im Mutterlande der große Streit zwischen Absolutismus und Konstitutionalismus, zwischen König und Parlament durchgekämpft wurde und mit der Niederlage des Königthums endigte, waren die Kolonien von Neu-England bereits fähig, auf eigenen Füßen zu stehen, zu gehen und sogar tüchtig auszuschreiten. Trotzdem hat es zu ihrem weiteren Gedeihen natürlich mächtig mitgewirkt, daß der große Protector Oliver Cromwell, der gewaltigste Herrscher, den Großbritannien gehabt, die Kolonisten, seine puritanischen Glaubensgenossen, mit hohem Wohlwollen ansah und sich ihnen in jeder Beziehung huld- und hilfreich erwies.

Aber das Meiste und Beste für ihr Emporkommen haben die Kolonisten selber gethan und zwar unter der Leitung und Führung von so ausgezeichneten Männern, wie die Carver, Bradford, Winslow, Winthrop, Eaton, Endecott, Hooker und andere mehr gewesen sind. Man darf sie die Patriarchen des „neuen Kanaan“ nennen. Die Strenge, womit sie die puritanischen Anschauungen und Principien in religiöser und sittlicher Beziehung aufrechtgehalten, blieb dauernd bestehen, und wenn die Neu-Engländer in bürgerlichen Dingen vom Anfang an und unablässig die Ideen und Formen der Selbstregierung bekannten und handhabten, so war die Gesetzgebung dieses Selfgovernments eine so ernste und unnachsichtige, daß anarchische Gelüste in den Pflanzstaaten niemals auftauchen, geschweige platzgreifen konnten. Diese zähen Männer, welche der Civilisation eine neue Welt eroberten, hielten auf feste Zucht und waren sehr geneigt, die Strenge, welche sie gegen sich selber übten, auch gegen andere walten zu lassen. Es ist ja bekannt genug, daß die Puritaner von Neu-England, nachdem sie kaum aufgehört hatten, Verfolgte zu sein, schon angefangen haben, Verfolger von Andersdenkenden zu werden. Das traurigste Beispiel solcher Unduldsamkeit bot ihr schnödes Verfahren gegen Roger Williams. Freilich darf man nicht übersehen, daß der Puritanismus nur mittels seiner eisernen Folgerichtigkeit sein großes Gründungswerk durchzusetzen vermochte. Aber dieses Werk hatte eben wie alles Menschliche auch seine Schattenseite. Eine Kirchenzucht, welche, dem theokratischen Fanatismus der Puritaner entsprungen, weltliche Strafgewalt sich angeeignet hatte, regelte und controlirte das ganze Dasein. Sie drückte freilich der Lebensführung der Kolonisten den Stämpel der Eintönigkeit, der Entsagung, der finsteren Grübelei, der Schwermuth und Herbigkeit auf, aber sie erzog auch mittels ihrer harten Disciplin häusliche und öffentliche Tugenden und lehrte Männer und Frauen jene Selbstbeherrschung, Thatkraft, Beherztheit und Standhaftigkeit, kraft welcher sie vollbringen konnten, was sie vollbracht haben.

Von großer Wichtigkeit mußte vom Anfang an für die jungen Pflanzstaaten das Verhältniß zu den Eingeborenen sein. Der Verkehr mit denselben war, einzelne Zwischenfälle abgerechnet, lange Zeit ein friedlicher und freundlicher, obzwar in den Beziehungen zwischen „Blaßgesichtern“ und „Rothhäuten“ der natürliche Keim zu heftigen Zerwürfnissen lag. Man muß den Puritanern nachrühmen, daß sie im ganzen und großen ihr Verhalten gegen die Indianer auf die Vorschriften strenger Rechtlichkeit basirten und namentlich die Eigenthumsrechte der Eingeborenen gewissenhafter achteten, als andere Europäer zu thun pflegten. In den puritanischen Ansiedelungen galt der Grundsatz, daß der Grundbesitz der Indianer nur mittels Kaufes oder Tausches in die Hände der Weißen übergehen dürfe. Freilich hinderte das nicht, daß ungeheure Strecken indianischer Jagdgründe von ihren Eigenthümern häufig um kindisches Spielzeug an die Kolonisten verhandelt wurden. Aber hinwiederum möchte dabei doch auch zu beachten sein, daß diese so spottwohlfeil erworbenen Landstrecken aus Prairie und Urwald bestanden und demnach von dem weißen Erwerber zum zweitenmal mit Axt und Hacke, mit Pflug und Spaten erworben, mit der harten Arbeit seiner Hände und dem heißen Schweiß seines Angesichts bezahlt werden mußten. Der erste große feindliche Zusammenstoß zwischen den Weißen und den Rothen hatte im Jahre 1637 in der Kolonie Connecticut statt. Der kluge und beherzte Sachem der Pequoden, also der ursprünglichen Eigenthümer des Landes, Sassakus, erkannte deutlich, daß von dem immer weiteren Vordringen der Kolonisten seinem Volke der Untergang drohte. Ebenso, daß diesem Vordringen nur ein Damm gesetzt werden könnte mittels einer festen Eidgenossenschaft aller indianischen Stämme von Neu-England. Er bemühte sich, wie wir später den Wampanogen-Sachem Metakom thun sehen werden, eine solche Eidgenossenschaft zu stiften. Aber vergebens. In dem zwischen den Pequoden und den Kolonisten vom Connecticut losbrechenden Kampfe erhoben die Mohikaner unter Führung ihres Sachems Unkas den Tomahawk gegen ihre rothen Brüder und für die Weißen, zu deren Gunsten und Unterstützung auch der Sachem der Narragansetter, Miantonomo, zweihundert seiner Leute auf den Kriegspfad schickte. So wurden die Pequoden überwältigt, ja geradezu vernichtet.

Diese erste große Gefahr, welche vonseiten der „rothen Heiden“ die puritanischen Pflanzstaaten bedroht hatte, verursachte oder beschleunigte wenigstens die Verwirklichung eines Gedankens, dessen Naturgemäßheit, Räthlichkeit und Nothwendigkeit von den Häuptern der Kolonisten schon lange erkannt worden war. Nämlich die Zusammenfassung der Pflanzstaaten von Neu-England zu gegenseitigem Schutz und Trutz mittels freier Vereinbarung. Diese älteste nordamerikanische Konföderation wurde i. J. 1643 glücklich gestiftet und damit eine mächtige neue, Bürgschaft für die gedeihliche Weiterentwickelung der neuenglischen Gemeinwesen hergestellt.




Das Riesenkind war zum Knaben erstarkt, war zum Jüngling aufgewachsen, der sich bald schon als ein ganzer Mann erweisen sollte.

Es muß als geradezu erstaunlich bezeichnet werden, was bis gegen das Jahr 1660 hin die Puritaner aus der Wildniß von Neu-England gemacht hatten. Unter ihren rastlos schaffenden Händen hatte sich das Wald- und Prairieland in ein fruchtbares Ackerbauland verwandelt, welches, mit Städtchen, Dörfern, Weilern und Farmen besetzt, mittels seines ganzen Aussehens erfreuliches Zeugniß ablegte von dem Fleiß, der Ausdauer, der Intelligenz, der Sparsamkeit und dem Wohlstand seiner Bewohner. Hier war gezeigt, was eine nicht auf schwindelhaft-utopische Theorieen, sondern auf das praktische Evangelium der Arbeit begründete Demokratie zu unternehmen und zu vollbringen vermöge. Auch die gewerbliche Thätigkeit und der Handel hatten einen vielversprechenden Aufschwung genommen und trugen zur Erleichterung und zum Behagen des Daseins bei.

Nun aber kamen Zeiten schwerer Störungen und Prüfungen, welche zu überstehen und zu überwinden der Puritanismus seine junge Manneskraft einsetzen mußte und eingesetzt hat.

  1. Ueber Roger Williams vgl. meinen Essay „Ein Prophet“, Menschl. Tragikomödie, 3. Aufl. Bd. 4, S. 64 fg. Dieser Mann ist schon darum eine weltgeschichtliche Gestalt, weil er es gewesen, welcher zuerst den großen Grundsatz einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche nicht nur theoretisch lehrte, sondern auch praktisch durchführte.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_435.jpg&oldid=- (Version vom 14.7.2021)