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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


Man ließ ihr nicht lange Zeit, – weder zum Staunen, noch zur Bekundung ihrer weichherzigen Theilnahme. Cesari erklärte ihr mit kurzen Worten, um was es sich handle. Der Knabe ward alsbald in sein Stübchen geschickt, und nun begann von Seiten des Rechtsanwalts eine förmliche Katechisation.

O, Giulietta entsann sich genau! Der Mensch, der den „Signore aus Calabrien“ angemeldet, war eine mittelgroße Gestalt, schwarz und so auffallend hager, daß man die Erinnerung an das knöcherne, blasse Gesicht gar nicht mehr los wurde! Ja, ja, die Schilderung, wie sie Cesari von dem Polizisten Emmanuele entwarf, der den Apulier ergriffen hatte, paßte auf’s Haar; – die silberne Brille, und die starre, häßliche Nase . . .: es war kein Zweifel! Sie wollte ihn wieder erkennen, und träfe sie ihn Gott weiß wo in Afrika oder in Asien! Daß sich die Zingarella nicht so deutlich entsinnen könne, das erkläre sich leicht; die habe nur Acht gehabt auf ihren Verlobten und den vermeintlichen Cardinal; auch sei das Zimmer auffallend düster. Sie, Giulietta, sei zugegen gewesen, als der Hagere zum Portier in die Loge kam. Auch der „Signore aus dem Calabrischen“ sei ihr noch ziemlich erinnerlich, wenn sein Gesicht auch nicht gerade so scharf sich einpräge, wie das des Hageren.

Einstweilen schien das genug. Cesari empfahl den Mädchen das unverbrüchlichste Schweigen, bat sie, für den folgenden Morgen sich zum Ausgang bereit zu halten, besprach sich dann mit dem Wirth, dem er für die Beurlaubung Giulietta’s eine Entschädigung bot, und entfernte sich, um sofort die Gräfin Ghiccioli aufzusuchen, mit der er von mütterlicher Seite verwandt war.

Vorher schon hatte er diese Dame mit dem Fall seines Clienten beschäftigt und ihre Verwendung nachgesucht im Interesse einer Begnadigung. Die Gräfin, deren Einfluß bei Hofe ein unbestrittener war, hatte den König zweimal über die Angelegenheit unterhalten, ohne ein Resultat zu erzielen, da der allgewaltige Monsignore De Fabris die Gegenpartie hielt und energisch darauf bestand, man müsse dem Gesetz freien Lauf lassen.

Jetzt hatte die Sachlage sich verändert. Die Gräfin versprach einen erneuten Angriff, und zwar für den folgenden Morgen; denn übermorgen in aller Frühe sollte bereits die Execution stattfinden.

Auch dieser erneute Angriff blieb resultatlos.

Am Tage darauf begab sich Cesari wieder nach dem Albergo. Er hatte inzwischen die Wohnung des Polizisten Nacosta in Erfahrung gebracht. Nun galt es die Beschaffung einer Gelegenheit für die beiden Mädchen, den Mitverschworenen des Pseudo-Cardinals zu recognosciren. Mit Rücksicht auf seine politische Situation mußte Cesari die ängstlichste Sorgfalt aufwenden. Ein Irrthum war ja noch immerhin möglich; die Polizei jedoch hätte, falls die Identität Nacosta’s mit dem hageren Herrn im Albergo zum „Goldnen Kreuz“ demnächst unerweislich blieb, die Denunciation von Seiten Cesari’s für einen verwerflichen Schachzug gehalten, der sich ausbeutebll ließ, um den Politiker wie Vertheidiger ernstlich zu compromittiren.

Unweit des Hauses, dessen Erdgeschoß Emmanuele Nacosta seit Kurzem bewohnte, befand sich eine etwas heruntergekommene Trattorie mit halb erblindeten Fenstern und verräucherten Vorhängen.

Im Eckzimmer dieses Locals faßte Cesari mit seinen Begleiterinnen Posto.

Von hier aus konnte man, ohne sich anzustrengen, die niedrige Hausthür, durch welche Nacosta aus- und eingehen mußte, im Auge behalten. Der Padrone der Trattorie, der seit Wochen nicht so gut gekleidete Gäste bei sich gesehen, spielte nach allen Richtungen den Charmanten und gab auf die gleichgültig hingeworfene Frage Cesari’s die erschöpfendste Auskunft.

So erfuhr man, daß Nacosta zur Zeit noch daheim sei, gegen halb elf jedoch voraussichtlich seine gewohnte Wanderung in die Stadt antreten werde. Aus den Reden des Wirths ging hervor, daß Nacosta als der Erretter des Cardinals ein gewisses Ansehen genoß; daß man sich in der Nachbarschaft für sein Thun und Lassen interessirte, während er selber mit den Bewohnern der Straße keinen Verkehr pflog, überhaupt in der größten Zurückgezogenheit lebte, und nur ab und zu von einem Signore besucht wurde, den selbst die alte Jungfer in der Mansarde, diese lebendige Chronik Neapels, nicht kannte.

Als es dreiviertel auf elf schlug, trat Emmanuele auf die Straße, sah sich ein paarmal um und schlug dann die Richtung nach der Via Toledo ein.

„Er ist’s!“ riefen Giulietta und Maria einstimmig.

„Ihr könnt das beeidigen?“ wandte sich der Advocat zu Giulietta.

„Ich nehme die Hostie darauf! So giebt’s nur einen Menschen in ganz Italien! Freilich, er wird’s bestreiten, aber ich wette, auch der Portier muß ihn wiedererkennen, und der Cameriere, der ihm das Zimmer wies.“

Nun hatte Cesari eine genügende Basis.

Er schickte die beiden Mädchen zurück nach dem Albergo und suchte zunächst einen Aufschub der Execution zu erzielen.

Hierbei stieß er auf so unerwartete Hindernisse, daß er noch kurz vor Mitternacht auf’s Neue die Gräfin Ghiccioli aufsuchte.

Sie schien anfangs geneigt, ihr Erstaunen zu äußern, daß Cesari zu so ungewohnter Stunde inmitten ihrer glänzenden Soirée sie behellige. Dann aber begriff sie, was auf dem Spiele stand. Für diesen Abend war es zu spät. Der König, gegen zehn Uhr von einem Jagd-Ausfluge zurückgekehrt, hatte sich ohne Zweifel bereits zur Ruhe begeben. Aber – das wußte man –: Seine Majestät war ein Früh-Aufsteher. Die Gräfin Ghiccioli versprach ihrem Verwandten heilig und theuer, sich selber, so schwer es ihr ankomme, beim ersten Grauen des Morgens dem Schlaf zu entreißen und um jeden Preis eine Audienz durchzusetzen.

Sie hielt ihre Zusage. Gegen dreiviertel auf acht stand der Avvocato im Cabinet Seiner Majestät und berichtete. Es war das erste Mal, daß er mit dem Souverain in persönliche Beziehungen trat. Der König, durch die bescheidene und doch so feste Beredsamkeit Cesari’s auf’s Angenehmste berührt, beauftragte sofort die zwei Officiere seiner Palastgarde, die Hinrichtung des verblendeten Salvatore zu inhibiren, während einer der Kammerherren mit dem Befehle betraut wurde, den Geheim-Polizisten in Gewahrsam bringen zu lassen.

*  *  *

Dies Alles erzählte Antonio Cesari dem wortlos lauschenden Apulier mit großer Lebendigkeit. Salvatore schauderte, als ihm so noch einmal klar und voll zum Bewußtsein kam, wie es in der That nur eines geringfügigen Zufalls bedurft hätte, um eine Verspätung und somit seinen schmachvollen Tod herbeizuführen.

Auch Maria hatte starr und schweigend mit zugehört. Die Augen gesenkt, lehnte sie an der Brüstung des vergitterten Fensters. Plötzlich brach sie in Thränen aus.

„Ach, Signore,“ schluchzte sie, die Hand Cesari’s ergreifend, „wenn ich Eure Stimme vernehme, so mein’ ich, Ihr wäret der Engel des Herrn, der uns das Heil verkündigt! Dennoch – ich kann nicht froh werden! Es liegt mir auf der Seele, wie eine qualvolle Ahnung! Sprecht, Signore: nichtwahr, mit schwerer Strafe wird er’s zu büßen haben, trotz der Mühe, die Ihr Euch gebt – und ich mit ihm?“

Ihr schwerlich,“ versetzte Cesari, „denn Ihr habt nicht geholfen; Ihr wart nur Mitwisserin, und kein Gesetz der Welt kann Euch zwingen, Euren Verlobten zu denunciren. Er selbst jedoch – allerdings! Was soll ich Euch täuschen? Das Tribunal – das meinte auch der Monarch – hat sich in den Augen Neapels lächerlich gemacht mit diesem Proceß, und Nichts verzeiht der Napoletaner weniger, als einen Streich, der ihm Spott und Hohn auf den Nacken lädt. Mögen jetzt andere Richter die Sache führen, – in diesem Punkte sind die Signori wie Ein Leib! Ich sag’ es im Voraus, Padovanino: macht Euch gefaßt darauf, daß sie Euch züchtigen bis an die Grenze der Möglichkeit! Und wißt Ihr – so leid es mir thut: – im Grunde haben die Leute Recht! Auch Der untergräbt die Sicherheit des Gemeinwesens, der solche Verbrechen erheuchelt; und wäre es wahr, was Eure Narrheit sich eingeredet, daß Monsignore De Fabris in eigner Person Euch beauftragt hätte: gut, so verdientet Ihr Beide, daß man Euch krumm schlösse! Versteht Ihr, Padovanino?“

„Signore Cesari,“ murmelte Salvatore zerknirscht, „ich hoffe, Ihr erkennt meine Reue, und laßt mich nicht im Elend verkommen!“

„Das gebietet schon meine Pflicht. Seid jetzt nur standhaft und faßt den einzigen ehrenwerthen Entschluß: muthvoll das zu ertragen, was Ihr Euch auferlegt habt!“

„Das will ich!“ rief Salvatore.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_399.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2021)