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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

der ihm das breite, behäbige Antlitz umrahmte, ließ allerdings den Pseudo-Cardinal aus dem Albergo zum „Goldnen Kreuz“ nur mühsam erkennen.

Die Knechte, die den Apulier aus dem Kerker geholt, führten ihn jetzt in die Mitte des Platzes. Der Staatsprocurator in seiner langen, wallenden Robe trat mit feierlicher Würde zu ihm heran und las ihm noch einmal das Urtheil des Tribunals, das der König durch seine Unterschrift für vollstreckbar erklärt hatte; danll winkte er dem Signore di Napoli und überantwortete ihm in der vorgeschriebenen Redewendung den Verurtheilten zur Execution.

Salvatore hörte nur den Klang dieser dröhnenden Stimme; den Sinn des Gesprochenen faßte er nicht mehr auf. – Sein Blick haftete mit wachsender Ungeduld an der Oeffnung der umstellten Barrière, wo der Bote des Cardinals mit dem Begnadigungsdecrete erscheinen mußte. Wahnsinniges Grausen ergriff ihn bei dem Gedanken, den er früher bereits im Kerker sich ausgemalt hatte: daß dem Boten ein Hinderniß in den Weg treten, daß er verunglücken könne – Und dann . . .? – Freilich, Emmanuele hatte ihm noch neulich erklärt, der Sendling Seiner Eminenz werde sich ganz in der Nähe halten: im schlimmsten Fall habe der Signore di Napoli Auftrag, die Sache künstlich hinauszuziehen. Aber wer konnte wissen, ob nicht da oder dort etwas Wesentliches versäumt war, ob nicht die Rechnung so oder so einen Fehler enthielt ...?

Er träumte noch, als die Schergen ihn schon bei den Armen ergriffen und nach dem Ausgang zum Blutgerüst fortzogen. Der Priester stand bereits oben, beklommene Starrheit in den sympalhischen Zügen, offenbar noch ein Neuling in dem traurigen Berufe des letzten Trösters . . .

„Ja, was soll’s denn ...?“ ächzte Salvatore, sich krampfhaft umkehrend. „Wo bleibt – So wartet doch . . .!“

„Faßt Euch ein Herz!“ raunte der Knecht, der ihn schon im Kerker ermahnt hatte. „Das hilft nun nichts, und je schneller Ihr zuschreitet, um so eh’r ist’s vorüber.“

„Nacosta! Er läßt mich im Stich!“ röchelte Salvatore verzweiflungsvoll. Mechanisch gehorchend, stieg er die Stufen hinauf. Dann aber, als er den offenen Sarg erblickte, der neben der Guillotine stand, ergriff’s ihn wie heller Wahnsinn. Er sträubte sich mit übermenschlicher Kraft; „Verrath! Verrath!“ rief er im Ton des höchsten Entsetzens. „Nacosta – der Cardinal – ich bin verloren!“

Die beiden Knechte, an solche Scenen gewöhnt, hielten ihn mit eisernem Griffe gepackt. Von der anderen Seite her war inzwischen der Signore di Napoli mit seinen Gehülfen auf das Gerüst getreten. Die Knechte übergaben ihr widerspenstiges Opfer den beiden Unterbeamten des Scharfrichters, denn diesen lag es nun ob, den Delinquenten auf’s Brett zu schnallen.

Marsucci, die Blicke gesenkt, trat zu Salvatore heran und faßte ihn bei den Handschellen. Der Apulier starrte ihm in’s Gesicht, als gewahre er ein Gespenst. In der Verlegenheit seines bösen Gewissens schloß Marsucci das rechte Auge, wie er in gewissen Momenten zu thun pflegte, und nun schwand dem unglücklichen Salvatore der letzte Zweifel.

„Ihr! Ihr!“ schrie er mit herzzerreißender Stimme. „Der Cardinal . . . O, nun versteh’ ich’s ...!“

Marsucci fühlte, daß vom nächsten Moment Alles abhing. Wie ein Rasender hatte er den Apulier zu Boden gezerrt, während sein Genosse dem Unglücklichen die Stricke fest um den Leib schlang.

Bei dem Ausruf: „Der Cardinal!“ besorgte der Staatsprocurator, der Delinquent möchte sich in beschimpfenden Wuthausbrüchen gegen Monsignore De Fabris ergehen. Er veranlaßte den commandirenden Officier, die Trommeln rühren zu lassen, sodaß die weiteren Angstrufe Salvatore’s jäh übertäubt wurden.

„Er hat vor Angst den Verstand verloren!“ sagte Marsucci zu seinem Amtsgenossen.

Der Priester trat klopfenden Herzens zu Salvatore heran.

„Ich bin verrathen!“ schrie der Gefesselte ihm entgegen. „Ich widerrufe, was ich gestanden habe! Alles ist Lüge! Alles ist Bosheit! Hülfe! Die Verruchten ermorden mich!“

Kopfschüttelnd wandte sich der Priester hinweg. Die Hände faltend, sprach er ein stilles Gebet, während Marsucci, der Teufel in Menschengestalt, das Brett unter die Guillotine zog.

Der Signore di Napoli trat heran, um die Schnur zu lösen. Dem Apulier legte sich ein schwarzer Schleier über die Seele, eine Gefühllosigkeit, die Balsam war im Vergleich mit dem, was ihn bis dahin zerfleischt hatte. Eine Secunde noch, und das haarscharfe Beil mußte herabsausen.

Da – im letzten Moment – verstummte plötzlich das Trommelgewirbel. Ein donnernder Zuruf: „Halt! Wir bringen die Gnade des Königs!“ scholl über den menschenwimmelnden Richtplatz. Zwei Officiere von der königlichen Palastgarde waren durch die Oeffnung der Barrière gesprengt und hatten den Staatsprocurator beinahe über den Haufen geritten.

Marsucci war wie erstarrt. Das mußte das Werk des fluchwürdigen Rechtsgelehrten Antonio Cesari sein, der gleich von Anfang Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hatte, um seinen Schutzbefohlenen zu retten.

Fahl und hohläugig tastete Marsucci nach dem Haken, der die verhängnißvolle Schnur hielt. Wenn jetzt noch das Beil fiel, so konnte er einen Irrthum vorschützen, und der furchtbare Ankläger, der ihm in Salvatore erstehen mußte, war ein- für allemal stumm gemacht.

Im nämlichen Augenblicke jedoch taumelte er mit einem wilden Aufschrei zurück. Sein Vorgesetzter, von dem althergebrachten Rechte der Signori di Napoli zum ersten Male seit langen Jahren Gebrauch machend, hatte dem Widerspenstigen, der seinen Meister von Amt und Brod zu bringen gewillt schien mit dem eisernen Stab, den er führte, einen Schlag auf die Stirne versetzt, daß ihm das helle Blut über Augen und Nase rann.

Während Marsucci geblendet sein Gesicht in die Hände preßte, legte der Nachrichter selbst Hand an, um den Apulier aus seiner entsetzlichen Situation zu befreien.

Die Officiere von der Palastgarde hatten inzwischen dem Staatsprocurator eröffnet, Seine Majestät der König befehle, den Begnadigten sofort nach dem Arresthause der Municipalität zu bringen, da dem Salvatore Padovanino zwar die Todesstrafe, nicht aber die gebührende Züchtigung für seine demnächst nach Umfang und Bedeutung noch zu erhärtende Schuld erlassen sei. Eine Wiederaufnahme des Rechtsverfahrens habe Seine Majestät bereits angeordnet.

So ward Salvatore, verstört um sich schauend, wieder vom Blutgerüste herabgeführt, während Marsucci auf Ansuchen seines Vorgesetzten von einem der umstehenden Polizei-Beamten verhaftet wurde. Der Signore di Napoli, eifersüchtig auf das, was er seinen Credit nannte, heischte genaueste Untersuchung des unerhörten Gebahrens, dessen Marsucci sich beim Erscheinen der zwei Palastofficiere schuldig gemacht.




11.

Tödtlich erschöpft von Allem, was er durchlitten hatte, erreichte Salvatore das Municipalgefängniß. Jeder Nerv an ihm fieberte. Unfähig, sich länger aufrecht zu halten, warf er sich auf die Bettstatt und schloß die Augen. Ein bleierner Schlaf überkam ihn.

Gegen Mittag erst weckte ihn das Klirren der Schlüssel.

Er sah empor.

Sein Vertheidiger Antonio Cesari und Maria standen schweigend an seinem Lager.

„Du, Zingarella!“ rief er, höchlich bestürzt. Seine Gedanken verwirrten sich; er wußte nicht, wie er die Anwesenheit Maria’s verstehen sollte. Während der Fahrt nach dem Municipalgefängniß war er mehrmals geneigt gewesen, in dem plötzlichen Eingreifen der Palastofficiere dennoch die Verwirklichung des Plans zu erblicken, den er mit Emmanuele vereinbart hatte. Dann aber trat ihm die Gestalt Marsucci’s vor die schaudernde Seele und mit ihr die zweifellose Gewißheit, daß Alles Lüge und Trug gewesen. Wie aber erklärte sich dann die unerwartete Rettung?

Ein ängstlich forschender Blick in das Antlitz der Zingarella verrieth ihm, wo er die Ursache dieser Rettung zu suchen habe.

„Also ist Alles verrathen,“ sagte er zu sich selbst. „Wenn mir auch das Schlimmste erspart blieb, so ernte ich doch statt des ersehnten Lohnes neue Verfolgung; denn daß die Sache nicht einfach begraben wird, das ist klar wie die Sonne!“

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