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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

den Festabend, als die vortreffliche Herzogin und den Putz des jungen Mädchens. Tante Barbara mußte natürlich ihr Pflegekind begleiten; sie war nie so geschäftig, so ängstlich bedacht auf die Mode, so freudig und unruhig zugleich gewesen.

Auch Christel dachte seit dem Morgenbesuch der geschwätzigen Freundin mit unbeschreiblicher Wonne und laut klopfendem Herzen an ihre Aussichten, und diese Gedanken waren es, welche sie in eine tiefe Träumerei versenkten.

Sie hatte seit einigen Jahren Bertuch’s Bilderbuch aus der Hand gelegt und statt dessen mit leidenschaftlich erregten Gefühlen „Götz von Berlichingen“ und jetzt „Die Leiden des jungen Werther“ gelesen.

Jetzt kam Er, der Schöpfer jener Gestalten, für die ihre empfängliche Seele glühte, Er, dessen Ruf schon jetzt die Jugend begeisterte und dem Alter ein bedenkliches, staunendes Kopfschütteln abnöthigte, Er, der Freund des Herzogs, Kalb’s geehrter Gast, der als „gefährlich“ geschilderte Hausgenosse der Freundin. Ein Meer von Gedanken, von Möglichkeiten, Ahnungen und Hoffnungen fluthete über sie herab. Sie sollte, sie mußte ihm begegnen, wenn sie vor der Herzogin auf dem Ball erschien.


2.

Bald nachdem Auguste Kalb von ihrem Besuch im Morgenzwielicht zurückgekehrt war, schritt, vom Fürstenhause über den Markt kommend, ein kräftiger junger Mann dem Hause des Kammerpräsidenten von Kalb zu.

Er war von mittlerer Größe und breitem, knochigem Bau, sein dunkelblondes Haar trug er an den Schläfen in zwei Locken gerollt, nach rückwärts mit einer schwarzen Schleife zusammengebunden. Hell und fest blickte er um sich, und die kräftige Nase, sowie ein energisch geprägter Mund gaben dem Kopfe, trotz aller Jugend und aufblitzenden Leidenschaftlichkeit, etwas Fertiges, Charaktervolles. Ueber dem röthlich violetten Rock mit Stahlknöpfen, der Schooßweste und dem kurzen schwarzen Beinkleide trug er einen weiten dunkelblauen Mantel zum Schutz gegen das Schneestauben des Novembermorgens. In der Hand hielt der rüstig Zuschreitende eine Hetzpeitsche mit Hirschhorngriff, welche er, dann und wann einen Jagdpfiff ausstoßend, lustig über zwei ihn begleitende Rüden schwang, die allemal mit hohen Sprüngen und kurzem Freudengebell antworteten.

Vor der Einfahrt des Kalb’schen Hauses angekommen blieb er stehen; mit vergnügtem Lächeln sah er den von Straßburg erwarteten Landauer Staatswagen an, in welchem diesen Morgen der Kammerjunker mit dem Gaste gekommen war.

„He Philipp!“ rief der Nahende, „bist Du auch mit da? Das ist schön, was macht Dein Herr?“

Die am Wagen beschäftigten Leute traten respektvoll zur Seite, der angeredete junge Diener kam mit dem Hute in der Hand heran.

„Ja, ja, glücklich angelangt, Durchlaucht!“ sagte er schmunzelnd. „Soll ich meinen Herrn Doctor holen? Er ist oben im Gastzimmer.“

„Laß nur, Philipp!“ rief der Herzog Karl August, denn er war’s, und die breite Treppe hinanspringend, öffnete er die Thür des ihm bezeichneten Gastzimmers und stürmte hinein.

Goethe trat ihm entgegen, leuchtende Freude im Antlitz – aber so groß war der Adel dieser Erscheinung, so herrlich die blühende Schönheit dieses Auserwählten unter den Menschen, daß der Herzog einen Augenblick wie gebannt stehen blieb, in Anschauen verloren.

Dann stürzte er auf ihn zu, ihn leidenschaftlich umarmend und ein Mal über das andere jubelnd: „Bist Du da? Habe ich Dich endlich in Weimar, mein Wolf! Mein einziger Freund!“

„Mein theurer, gnädiger Herr!“ entgegnete der Andere, „Sie kommen zu mir? Kalb versprach mir, mich zu Ihnen zu führen.“

„Glaubst Du, ich hätte darauf warten können, Herzensbruder? Gestern erhielt ich durch den Boten die Kunde Deines Kommens, heute laufe ich natürlich selbst her, um zu sehen, ob Du wirklich da bist. Wie wohl wird mir bei Deinem Anblick! Ich athme auf, und Pläne freudigen Lebensgenusses strömen mir zu. Ach, ich habe zu viel Hofluft ertragen müssen!“

„Ich glaubte, Eure Durchlaucht hätten über den Wonnen des Honigmondes alles Andere vergessen?“

„Vergessen, wohl gar Dich? Bleibe mir damit und mit Deiner Durchlaucht vom Halse! Hast Du vergessen, daß wir Brüder sein wollten? Denkst Du nicht mehr an den göttlichen Abend in Frankfurt? Leute, welche per Durchlaucht reden und mir Reverenzen schneiden, habe ich genug. Mich verlangt nach einem Genossen, einem Vertrauten, der nicht unter mir, nach einem Freunde, der neben mir steht, von dem ich gewinnen mag an Lebensfreude und –“ setzte er plötzlich ernst hinzu – „an Weisheit!“

„Mein Fürst!“

„Still! Sag’ Karl, oder ich verlasse Dich und gebe Dir eine Audienz im Kreise meiner stirnfaltenden Räthe.“

„Nun denn, Karl, warum der Spott: von mir Weisheit lernen zu wollen? Von mir, den man einen Ausbund jugendlicher Thorheiten, einen Tollkopf, einen Schwärmer nennt!“

„In Deiner Tollheit, Deiner Schwärmerei liegt Weisheit; die große Weisheit der Wahrheit und Naturwärme, die ich oft mit Diogenes’ Laterne suche und nicht finde.“

„Wie! Du vermissest Wahrheit und Wärme? Sei gerecht, Karl, ein Wort nur, einen Namen halte ich Dir entgegen – Luise!“

Eine flüchtige Röthe streifte die Stirn des Herzogs, und leise seufzend entgegnete er:

„Der Name sagt viel. Aber diese erste Stunde sei dem freudigen Willkommen geweiht! Reiche mir das Glas, schenk’ ein: ein Freudengruß Deinem Hiersein!“

Die Gläser klangen, sie schüttelten einander die Hände, und wie ein Willkommengruß von oben theilte plötzlich die Sonne Schneewolken und Morgennebel, glitzerte auf den letzten Flocken, die wie feines Silber in der Luft tanzten, und strahlte warm in das Zimmer und über die freudig bewegten Jünglinge.

Karl August ergriff zuerst wieder das Wort:

„Es verdrießt mich, daß ich Dich nicht bei mir aufnehmen kann. Du weißt, das Schloß ist vor vier Jahren abgebrannt, und wir sitzen mit Sack und Pack im Fürstenhause. Ganz oben die Kanzlei, meine Gemahlin in der Bel-Etage, unten Damen, Cavaliere, Dienerschaft, was weiß ich, wer alles. Ich habe meinen alten Hofmarschall Witzleben bis zum Verzweifeln gedrückt, daß er mir ein Quärtier für Dich schaffen soll, er windet sich wie ein Wurm und schwitzt vor Angst und Diensteifer, aber ein resoluter Kehraus wird nicht gehalten; so muß ich meinen Gast bei Andern unterstellen. Ich hoffe aber, Du sollst es nicht schlecht haben bei diesen Kalbs; sie sind abhängig von mir, eigennützig, und darum windelweich. Der Kammerjunker wird Dich wie einen jungen Gott tractirt haben? Aber er weiß auch warum! Dann giebt es hier eine Tochter im Hause –“

Goethe lächelte und sein feuriges Auge schweifte zum Fenster hinüber; der Herzog fing den Blick auf.

„Ah, das weißt Du, schon?“ rief er. „Gustchen wirft wohl gar Angeln aus, laß sehen!“

Lebhaft sprang er auf, der Freund folgte, und Beide spähten vorsichtig durch das Fenster.

Ein gar anmuthiges Bild zeigte sich ihnen. Vergoldet vom Sonnenschein, eingerahmt von weißen, bauschenden Vorhängen, neben sich in der Fensterbank ein blühendes feuerrothes Geranium, saß Gustchen Kalb, eine Näherei auf dem Schooße; sie ließ eben den blitzenden Fingerhut so eifrig auf der Scheerenspitze tanzen, als ob es nichts Interessanteres auf der Welt gäbe. Ihre runde Wange brannte, die Augen leuchteten in freudiger Erregung, denn sie hatte eben die lauschenden jungen Männer bemerkt.

„Gut gemacht!“ rief Karl August überrascht, „fürwahr ein schönes Bild! Wie wird meinem Dichter? Ich glaube, sein Quartier gefällt ihm schon.“

Goethe zog den Freund vom Fenster zurück.

„Das Mädchen ist reizend,“ sagte er warm, „der erste Eindruck könnte nicht günstiger sein; was werde ich unter der schönen Hülle finden?“

Der Herzog lachte und zuckte die Achseln.

„Du wirst sehen und – siegen!“ rief er mit komischem Pathos; „aber jetzt zu etwas Anderem. Ich möchte Dich bald einführen, Dir’s wohnlich bei uns machen; Du mußt Menschen und Verhältnisse kennen lernen. Da ist vor allen Dingen meine Mutter. Ich gestehe Dir, daß sie eine kleine Pique auf Dich hat, weil Du gegen unsern alten Wieland Deine stachligen Verse losgelassen hast; aber sie ist versöhnlich, alles Große, Edle zieht sie an, steht mit ihrer herrlichen Natur in harmonischer Wechselwirkung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 375. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_375.jpg&oldid=- (Version vom 10.10.2022)