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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)


„Das sind ja erbauliche Zustände!“ sagte der Untersuchungsrichter. „Nun, so Gott will, nimmt das Governo aus diesem jüngsten Frevel der Revolutionspartei endlich Veranlassung, die bisherige Milde in rückhaltlose Strenge zu verwandeln!“

Er legte nun dem Beschuldigten einige weitere Fragen vor, die Salvatore mit großer Glaubwürdigkeit beantwortete. Sie bezogen sich sämmtlich auf die Beweggründe, auf das allmähliche Ausreifen des verbrecherischen Projects und auf Salvatore’s gegenwärtige Stimmung.

Der Apulier gab sich so ungezwungen und entwickelte bei aller Ruhe des Auftretens so viele Spuren eines heimlichen Fanatismus, einer verborgenen dämonischen Gluth, daß der Richter mit der psychologischen Situation sehr bald in’s Reine gelangte. Widersprüche in den Aussagen des Apuliers waren nicht nachzuweisen; andere Beweggründe als die zugestandenen schienen nicht denkbar. So schloß denn der Untersuchungsrichter diesen ersten Theil des Verhörs in der klaren Gewißheit, daß der Mordversuch auf Monsignore De Fabris die That eines wüthenden Revolutionärs, eines wahnwitzigen Schwärmers sei, der, bethört von den frevelhaften Ideen des Liberalismus und dem Fieber einer krankhaften Ehrsucht, blindlings zur Waffe gegriffen.

Nachdem sich diese Ueberzeugung einmal bei dem Richter festgesetzt hatte, erleichterte er, ohne es zu wollen, durch die ganze Art seines Inquirirens dem Beschuldigten außerordentlich die folgerichtige Beibehaltung der Maske. Eine Reihe von Punkten, vor denen Salvatore ernstlich gebangt hatte, wurde gar nicht berührt; ja, in einzelnen Fällen, wo der Beschuldigte zweifelhaft war, wie er sich zu verhalten habe, gab ihm der Inquirent durch die Form seiner Fragestellung das Erforderliche klar an die Hand.

Die Erwerbung der Reiter-Pistole erzählte Salvatore der Wahrheit gemäß; er hatte sie einige Tage zuvor bei einem Waffenhändler der Strada Medina nebst den dazu gehörigen Patronen gekauft, angeblich, weil er eine Reise nach Eboli vorhatte.

Das Unbehaglichste für Salvatore war die Confrontation mit Emmanuele Nacosta. Die virtuose Schauspielerkunst jedoch, mit der der Polizei-Aspirant seine Aufgabe angriff, gab dem Apulier nach wenigen Augenblicken des Schwankens die volle Sicherheit wieder. Als der Richter den Polizei-Aspiranten ganz wie beiläufig fragte: „Ihr entsinnt Euch nicht, den Beschuldigten früher jemals gesehen zu haben?“ – da ertheilte Nacosta die verneinende Antwort mit so vollkommener Gleichgültigkeit, als wäre es rein unmöglich, der Frage des Inquirenten eine gewisse Bedeutsamkeit zuzuschreiben. Er sagte Nein, als hätte er ebenso gut Ja sagen, als hätte er antworten können: „Ich hab’ ihn gelegentlich in einer der Osterien von Santa Lucia beobachtet.“ Dabei war Nacosta dem Apulier einen so neugierig-fremden Blick zu, daß Salvatore beinahe erschrak: der Polizei-Aspirant schien die Rolle, die er hier durchführte, nicht zu spielen, sondern zu leben; er schien selber an ihre Wahrheit zu glauben.

Nun, so sehr auch der Apulier über die unheimliche Meisterschaft seines Mitverschwornen erstaunte, so unsympathisch sie ihn berührte: er jauchzte doch, als er wahrnahm, wie das Alles glatt und geräuschlos von Statten ging. Wenn die Angelegenheit schon in den ersten Stadien so über alle Erwartung glückte, so durfte das als günstiges Vorzeichen für den ferneren Verlauf gelten. Nach Verlesung des langstieligen Protokolls ward Salvatore Padovanino wiederum abgeführt.

Trotz der muthvollen Stimmung, in die das Verhör ihn versetzt hatte, seufzte er, als er sich wieder allein sah in der dumpfen, lichtlosen Zelle, während Nacosta jetzt hinausschweifen würde an das Meer oder nach der Via Toledo. Kein Zweifel: der Polizei-Aspirant hatte den leichteren Theil der Aufgabe übernommen, und wenn der Gewinn nach dem Maßstabe der Leistung vertheilt wurde, dann mußte Seine Eminenz ihn, den Apulier, ungleich höher belohnen als den schlauen Emmanuele.




8.

Vier Tage verstrichen dem Verhafteten in erdrückendem Einerlei. Nur der Kerkermeister trat zweimal zu bestimmten Stunden in das Verließ, um die reichliche, aber unschmackhafte Nahrung zu bringen und den thönernen Krug zu füllen.

Von Erleichterungen oder Vergünstigungen, wie sie der Pseudo-Cardinal bei jener Audienz im Albergo zum „Goldenen Kreuz“ in Aussicht gestellt, war Nichts zu verspüren.

Einmal wandte sich Salvatore geradezu an den Kerkermeister: ob es nicht möglich sei, das abscheuliche Spartgrasgeflechte mit der schmutzigen Wolldecke durch ein halbwegs erträgliches Bett zu ersetzen.

Der Gefängnißwärter lachte ihm brutal in’s Gesicht.

„Werdet wohl noch eine Unterlage genießen, die Euch härter bedünkt,“ sagte er höhnisch. Dabei machte er eine Geberde, die nicht zu mißdeuten war; er meinte das Delinquentenbrett unter dem Fallbeil.

Auch die Handschellen wurden dem beklagenswerthen Apulier nicht abgenommen.

„Ihr könntet sonst auf den Einfall kommen,“ meinte der Kerkermeister, „dem Signore di Napoli und seinen Gehülfen die Arbeit vorweg zu nehmen!“

„Signore di Napoli“ – so nannte man damals mit artigem Euphemismus den Scharfrichter.

Ein Andrer hätte bei so unangenehmen Erfahrungen zweifellos dem Andrange trübseliger Empfindungen nachgegeben, Seiner Eminenz im Stillen den Vorwurf allzu scheuer Zurückhaltung, wenn nicht gar der Vergeßlichkeit und Herzlosigkeit gemacht; er hätte von dieser Einen Enttäuschung auf die Möglichkeit weiterer Mißverständnisse und Fatalitäten geschlossen; er wäre skeptisch und muthlos geworden. Salvatore jedoch besaß – wir wissen es – das ewig neue, unfehlbare Auskunftsmittel, das ihn siegreich über das Jetzt hinaushob, die Kunst des Träumens, und niemals schien seine Fähigkeit, sich in den Aether zu schwingen, so voll entwickelt, als jetzt. Er bezwang sein Mißbehagen, eh’ es noch recht zur Entfaltung kam. In der That: mit absoluter Gewißheit war ihm ja von Seiten des vermeintlichen Monsignore Nichts zugesagt worden.

Zu Anfang der folgenden Woche trat ein unverhofftes Ereigniß in die äußere Monotonie dieses Kerkerlebens. Der Schließer führte einen ernst und vornehm dreinschauenden Herrn in die Zelle, sagte sehr höflich: „Sobald der Signore fertig ist, beliebe er dreimal wider die Thür zu pochen“ – und entfernte sich dann, den Riegel mit ungewohnter Geräuschlosigkeit in die Kramme schiebend.

Salvatore hatte gesenkten Hauptes auf der Holzbank gesessen. Jetzt erhob er sich langsam. Der Fremde kam auf ihn zu, musterte ihn mit einem ruhigen, durchdringenden Blick und sagte dann halblaut:

„Ich bin Antonio Cesari, Advocat am königlichen Gerichtshof. Dem herrschenden Brauch zufolge hat mich das Loos zu Eurem Vertheidiger bestimmt, da Ihr als Unansässiger nicht das Recht freier Wahl habt. Salvatore Padovanino, ich hoffe, der Zufall, der gerade für mich entschieden, soll Euch nicht zum Unheil gereichen; denn was ich bis jetzt aus den Protokollen des Untersuchungsrichters entnahm, das scheint darauf hinzudeuten, daß Ihr mehr ein irregeführter Thor seid, als ein wirklicher Missethäter, – und für Bethörte und Verblendete Alles aufzubieten, was ich vermag, weit über die Grenzen meines advocatorischen Berufes hinaus – das halte ich für die Aufgabe meines Lebens!“

Der Apulier fühlte sich bei dieser warmblütigen Ansprache aus mehr als Einem Grunde verwirrt.

Zunächst berührte es ihn eigenthümlich, daß gerade eines der hervorragendsten Mitglieder der Oppositionspartei seine Vertheidigung führen sollte.

Oft genug hatte er den Namen Antonio Cesari’s im Zusammenhang mit den Bestrebungen der „Freiheitsfreunde“ vernommen, um sich sofort klar darüber zu sein, daß dieser seltsame Zufall dem ganzen Gewebe der mit Emmanuele geplanten Erfindungen gleichsam den letzte Stempel der Wahrhaftigkeit aufprägte. Für gewisse Kreise des Publicums stand Salvatore nunmehr zweifellos als das unmittelbare Werkzeug des Liberalismus da, als der Beauftragte, der von den Auftraggebern geschützt und geschirmt wurde.

Wenn ihn diese Erwägung nun auch befriedigte, – denn ein solcher Irrthum des Publicums verwirklichte ja, wie er glaubte, die Absicht des Cardinals – so regte sich doch, neben der rein verstandesmäßigen Genugthuung, eine instinctive Beklommenheit.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_343.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2021)