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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Daß gerade das Kind mehr als der Erwachsene ansteckenden Krankheiten ausgesetzt ist, darf als bekannt vorausgesetzt werden. In diesem zarten Alter trifft das Krankheitsgift von Masern, Scharlach, Diphtherie, Pocken, Keuchhusten etc. auf einen hierfür besonders empfänglichen, noch allen krankmachenden Einflüssen offenem Organismus. Das Kind ist unstreitig in besonderer Gefähr, etwa ähnlich der Bevölkerung auf isolirten Inseln, die bis zur ersten Ansteckung eines ihrer Bewohner z. B. die Masern nicht kannten und nun zu Tausenden davon befallen und hingerafft wurden.

Selten und nur im Beginn ist das Auftreten von Kinderkrankheiten ein vereinzeltes. Gar bald pflegen sie, erst in der Wohnung, dann im Hause sich zu verbreiten und, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Ort zu Ort verschleppt, die Eigenschaft von Epidemieen anzunehmen. In anderen Fällen wieder nisten sie sich, im engeren Kreise einer Anstalt, einer Gebäudegruppe, einer Ortschaft „endemisch“ ein. Gelingt es nicht, die ersten Fälle einschließen und ihre Verbreitung zu verhindern, so wächst anfangs das Gespenst der Epidemie unaufhaltsam, täglich steigt die Zahl der Befallenen, dann hält sie sich auf gewisser Höhe, endlich wird sie wieder geringer, gleich als ob das Krankheitsgift sich erschöpft und abgeschwächt hätte, bis die Epidemie erlischt. Dabei kann ein und dieselbe Krankheit, z. B. Scharlach, das eine Mal eine bösartige, das andere Mal eine mehr gutartige Epidemie erzeugen.

Der eigenartige Charakter, den jede einzelne Kinderkrankheit besitzt, zwang schon lange zu der Vorstellung, daß „das Ansteckende“ einer jeden ein ganz besonderer Stoff sei; daß durch das Keuchhusten-Gift immer nur Keuchhusten, durch Diphtherie-Erreger nicht Masern, durch „Ziegenpeter“ nicht Windpocken erzeugt werden können. Aber Was und Wo ist der Ansteckungsstoff? Um den Schleichwegen, auf denen er sich verbreitet, nachzuspüren, möchte man ihn wenigstens einigermaßen kennen. Daß er als „Miasma“ in der Luft oder im Wasser oder im Boden vorhanden ist oder sich zu gewissen Zeiten entwickelt, wie die Malaria, die den Vergnügungsreisenden am Tiberstrande und den Forscher in den Flußgebieten Afrikas dahinrafft, ist bei Kinderkrankheiten sicher nur ausnahmsweise der Fall. Vielmehr neigt man sich allgemein der Ansicht zu, daß das Wesen der Ansteckung ein „Contagium“ sei, ein im Körper eines Kindes sich entwickelnder, von Kind zu Kind übertragbarer Stoff, unsichtbar, von feinster Vertheilung, außerordentlich vermehrungsfähig, oft durch Bodenverhältnisse, Klima, Witterung und dergleichen allerdings noch begünstigt, aber nicht die einzelnen, isolirten Kinder gleichsam durch eine gemeinsame Ursache befallend, sondern auf deutlich zu verfolgendem Wege weiter getragen durch den menschlichen Verkehr.

Lange Zeit erschien diese Art der Ansteckung gerade so räthselhaft, wie die durch Sinnes- und Nerveneinfluß, welche in dem interessantesten und unheimlichsten epidemischen Nervenleiden, der „Tanzwuth“, im Jahre 1374 nach dem Erlöschen des „schwarzen Todes“ ihren Ausdruck fand. Hier wirkte der Anblick halb rasender, in sinnlosen springenden Bewegungen durch die Straßen ziehender Menschen ansteckend auf die Volksmassen in den Niederlanden, in Italien, in der Rheingegend, wo die Unglücklichen in der Capelle des heiligen Veit zu Zabern und an anderen Orten von ihrem unheimlichen Leiden durch Gebete befreit wurden. Allerdings lag eine Ansteckung vor, wenn auch nur durch Nachahmung; das schwache Abbild jenes Leidens in dem „kleinen Veitstanz“, der sich bekanntlich leicht in einer Familie oder Schulclasse durch den bloßen Anblick weiter verbreitet, ist ein Beispiel für diese Form der Ansteckung. Diese „nervöse“ Uebertragung, wie sie auch beim Lachen und Weinen, bei Ruhe und Erregung, bei Jovialität und Verstimmung sich bemerkbar macht, ist in der That eine Art „Ansteckung“, ganz ähnlich dem Gähnen der Langeweile.

Seit es ansteckende Krankheiten giebt, hat sich jederzeit der Zustand der Culturentwickelung getreu in der Art und Weise wiedergespiegelt, wie man das Wesen der Ansteckung zu deuten und erklären versuchte. Daß in der Bibel jede Epidemie als ein Strafgericht Gottes dargestellt wird, ist sehr natürlich. Die Verhängung der Pest über Pharao und sein Land, die Pest zu der Zeit Davids, welche 70,000 Menschen hinraffte, die Massentödtung von 185,000 Mann während einer Nacht, vollzogen im assyrischen Lager „unrch den Engel des Herrn“, sind Beweise dieser religiösen Auffassung. Eine solche ist auch im griechischen Mythus herrschend. Die Götter waren es, welche zürnend und strafend das Sterben durch Epidemieen veranlaßten. Apollo selbst mit seinen silbernen Pfeilen bringt Pest und Verderben, so als Vergeltung für den Raub der Tochter seines Priesters Chryses durch Agamemnon:

„Plötzlich entsandt’ er das böse Geschoß, und die Männer Achajas
Starben in Haufen dahin.“

Näher unserer heutigen Auffassung stehen schon die Erklärungen der Seuchen aus historischer Zeit, so des Lagertyphus, den uns Thukydides beschreibt und den er selbst auf Ueberfüllung Athens mit Kriegern und Landbewohnern im zweiten Jahre des „Peloponnesischen Krieges“ (430 v. Chr.) zurückführt. Aehnliche Epidemien von Typhus schildern römische Geschichtsschreiber ganz rationell meist im Zusammenhange mit Krieg oder Ueberschwemmungen.

Wie tief, fast thierisch stehen gegenüber den Völkern des Alterthums die des Mittelalters da, wenn verheerende Seuchen über sie hereinbrachen! Im Orient stumme Ergebung, dumpfes Hinbrüten und eine Thatenlosigkeit, die ihre höchste Leistung in Absperrung und Vernachlässigung der unglücklichen Opfer sucht. Im Abendlande kindischer Aberglaube und wilder Fanatismus in Verfolgung Schuldloser, welche die angebliche Ursache der Epidemien sein sollten, oder zügellos-leidenschaftliche Nerven- und Geisteskrankheiten als Folgezustände von Furcht und religiöser Schwärmerei. Als im 6. Jahrhundert die Pest aus Syrien, Aegypten und dem Byzantinischen Reich über Europa hereinbrach und täglich 5000 bis 10,000 Menschen tödtete, erweckte dieses allgemeine Unglück, mit dem man die Zuchtruthe Gottes, den Kometen, sowie Erdbeben in Verbindung brachte, zwar im Anfange die edelsten Leidenschaften, Hingebung, Besserung und Buße, aber desto ungezügelter erwachten die Frevel nach dem Erlöschen der Seuche. Furchtbareres begab sich im 14. Jahrhundert, der Schreckenszeit des „schwarzen Todes“, der im Morgenlande 23, in Europa 25 Millionen Menschen dahinraffte, Deutschland allein um 1,200,000 Bewohner ärmer machte. Auch für diese Noth suchte man die Ursache zunächst in Naturerscheinungen. Wiederum spielte der Komet mit feurigem Schweif eine große Rolle. Medaillen künden uns noch den Schrecken, den er verursachte:

„Gott geb das uns der Komet-Stern
Besserung unseres Lebens lern“ –

Zeichen und Wunder waren die nothwendigen Vorläufer oder Begleiter von Volksseuchen. Meteore, Ueberschwemmung oder Dürre, vulcanische Ausbrüche, Erdbeben und Orkane sah man als Ursache der Epidemien an. Geistig-sittliche Epidemien, vor denen uns heute graut, waren die traurige Folge.

Anstatt die Ursachen der Infection aufzusuchen oder diese auf vernünftige Weise zu erklären, gab man sich entweder leichtsinnigen Ausschweifungen hin, wie bei der Pest zu Florenz, die 60,000 Opfer forderte, oder einer religiösen Verzückung, wie es die „Geißelbrüder“ thaten. Sodann beschuldigte man die Juden der Brunnenvergiftung, und tödtete zuerst in Chillon am Genfer-See, dann in vielen Städten Deutschlands in fanatischem Wahnsinn Tausende durch Feuer und Schwert, zu Mainz 12,000, zu Straßburg 2000, und so fort. Der Boden Deutschlands, zumal der Rheinlande ist von dem Blute dieser Unschuldigen getränkt. Hierzu kommen die Massenopfer, welche in Folge „blutender Hostien“ dahingemordet wurden, ein Wahnsinn, der uns jetzt um so furchtbarer erscheint, weil wir es heute durch ein leicht zu wiederholendes Experiment feststellen können, daß ein mikroskopisch kleiner Pilz auf Stärkemehl diesen rothen Farbstoff bildet, den man für Blut hielt. Es folgten vom 13. Jahrhundert an die Hexenprocesse. Die rasende Menge, welche das Ansteckende der Krankheiten nicht verstand, mußte ihr Opfer haben und Hunderte unschuldiger Frauen, denen die Folter die sinnlosesten Geständnisse erpreßt hatte, endeten auf dem Holzstoß. Fast ein Jahrhundert, nachdem der Leipziger Professor Thomasius diesen Wahnsinn verurtheilt hatte, mußte noch verstreichen, Männer wie Friedrich der Große und Joseph II. waren schon gestorben, als die letzte Hinrichtung einer Hexe stattfand. Heutzutage lächelt man, wenn eine Mutter für die Erkrankung ihres Kindes den bösen Blick, das „Beschreien“ anschuldigt, und vergißt, daß dies die letzten Spuren des Hexenglaubens sind.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 331. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_331.jpg&oldid=- (Version vom 6.7.2021)