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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

daß die erstarrende Hand kaum den Alpstock umklammern konnte. Wir durchzogen eine todesstille, nächtige Winterwelt. Noch zwei, noch eine, noch eine halbe Stunde bis zur Casa inglese, dem Alpenclubhause – so machten wir uns Muth – und dann Feuer und Glühwein! O weh – die Casa inglese lag so tief im Schnee, daß an ein Eindringen nicht zu denken war. Vergebliche Versuche, uns am Feuer einiger Halme Stroh zu erwärmen, die wohl noch vom vorigen Jahr her hier oben liegen mochten....

Also weiter, weiter! War das nicht schon ein erster Geruch von Schwefel? Dann werden wir bald dort sein, wo die heißen Dämpfe den Schnee gethaut! Im Osten ward’s ein wenig heller – die schmale Sichel des abnehmenden Mondes tauchte herauf.

Ich blieb stehen. Ich schien mir auf einen fernen, fernen Planeten entrückt, den die Sonne aus ihrer unendlichen Ferne nicht mehr erwärmt, den sie kaum noch mit mattem, träumerischem Dämmerschein überhaucht. In lautloser Majestät herrschte rings nur der Tod; mir war’s, als würde kein Wort aus meinem Munde erklingen können, auch wenn ich den Versuch wagen wollte, es zu sprechen. Soweit ich, was ich sah, unterscheiden konnte, sah ich nur Eis und Schnee, hier und dort starrte stumm, wie ein verschneites Grabmal vergangener Titanengeschlechter, ein Fels daraus hervor. Doch was war das? Hoch oben vom Himmel herab ergoß sich ein breiter Schimmer bläulich silbernen Lichtes, matt, kaum viel stärker, als das Leuchten der Milchstraße in südlichen Nächten.

Es dauerte eine Weile, bis es mir klar wurde, daß, aus dieser Höhe gesehen, das Meer so hoch am Horizont hinaufsteigt, daß jener Schein ein Wiederglanz des Mondes auf seinem Spiegel war. Vom Lande drunten erkannte ich nichts, nur hier und dort glomm es wie Phosphorstückchen; nur so schimmerte der Glanz über den von Laternen erleuchteten Städten herauf, die tief unten schlummerten.

„Weiter, Signor, weiter – es wird bald dämmern!“

Der Zuruf des Führers schreckte mich wie aus einem Traume auf. Wir schritten vorwärts. Allmählich ward es heller.

„Signor, blickt dorthin – seht Ihr den Kraterrand?“

Ich blickte aufwärts. Wie eine breite, weiße Wolke wogte es über mir – die erste Bewegung in dem erstarrten Bilde um mich her.

„Und hört Ihr, Signor?“

Wie leises Zischen kochenden Wassers klang’s vor mir aus dem Boden.

„Wir sind am Krater, Signor! Muth, jetzt gilt’s das Schlimmste, aber dann sind wir oben!“

Ritt auf den Berg. Von Ch. Speier.

Da lag, selbst noch wie ein mächtiger Berg, der Gipfelkrater vor mir, der, von der Ebene aus gesehen, wie ein qualmendes Räucherkerzchen erscheint. Der Schnee reichte kaum bis an seinen Fuß, er selbst war frei davon – ich sah weshalb: an hundert Stellen stiegen aus dem steilen Abhang kleine Dampfwölkchen verschiedener Farbe hervor, schlängelten sich aufwärts und verflogen an der Luft. Da galt’s nun hinanzuklettern. Mühsam ist’s immer, heute aber war’s gefährlich, denn wo keine Gase ausströmten, war die Wand mit Glatteis überzogen, und wo wir Dämpfe passiren mußten, waren sie heute so stark, daß wir kaum athmen konnten – bei der Anstrengung des Steigens und der Dünne der Luft hier oben doppelt lästig. Hätten wir die Dämpfe immer gesehen, so wär’s noch angegangen, so aber kam ich mir vor wie von Kobolden geneckt, wenn ich aus einer gefärbten Dampfwolke in eine farblose, unsichtbare Gasquelle gerieth, aus deren Bereich ich eben nur durch Zufall entweichen konnte. Indessen ward es heller und heller; immer krampfhafter arbeiteten wir uns hinan, die Spitze noch vor Sonnenaufgang zu erreichen.

Coraggio! Muth! Muth!“ schrie der Führer mir und sich selbst ein über’s andere Mal zu. Dann fragte er mich wieder, ob mir Blut in den Mund käme, das erste Zeichen der durch die Höhe hervorgerufenen Aetnakrankheit. Und nun wieder zur Abwechselung ein herzhafter Fluch über die Dämpfe – der aus Luftmangel im Halse stecken bleibt. Ich hätte für einen Zug reiner Luft mitunter mehr gegeben, als für den Genuß, der mir bevorstand.

Endlich, endlich sehe ich, daß der Abhang sich über mir umbiegt – wie durch einen Zauberschlag strömen mir neue Kräfte zu, im Nu bin ich oben und trotz Gasen, Dämpfen und Brustschmerzen jauchze ich von seinem höchsten Rande einen jubelnden Jodler in den Krater hinab.

„Still, still, um Gotteswillen still – ’s ist der Teufel, Signor, der dort unten wohnt; Maria Santissima, ruft ihn nicht!“

Blaß vor Entsetzen rief mir’s der Führer zu. War’s der Aberglaube allein, der aus ihm sprach, oder die Erfahrung, daß schon ein lauter Schall die durchgrabenen Wände des Kraters zum Einsturz bringt? In hundertstimmigem höhnendem Echo hallte währenddem mein Jubelruf zurück. Ich verstummte und staunte in die Tiefe.

Ein gigantischer Felsenkessel liegt der Krater vor mir, drei Viertelstunden im Umfang, groß genug, um eine Stadt in sich zu bergen – und ohne Ende, ohne Grund, denn die Tiefe drunten, die sich erst dem Auge des weit Uebergebeugten zeigt, ist ein brodelndes Dampfmeer. Aber nur auf Secunden zieht sich’s soweit in sich zusammen, wie ich’s jetzt sehe – sonst ist’s ein rastloses Wogen, Kochen, Bäumen, Emporschießen, Zurückstürzen und zischendes Wiederaufschnellen. Und doch ist es diese Hauptmasse der Dämpfe nicht, die mich am gewaltigsten fesselt – ungleich mehr bannt der Anblick, den der furchtbare Schlund als Ganzes bietet.

Aus allen Ritzen seiner Wände kriechen Wölkchen hervor, tausende, tausende. Von anderen Gasen und Dämpfen aber, die unsichtbar zwischen die sichtbaren hineinspielen, werden sie zum wunderbarsten Tanze getrieben. Ich mag mich sträuben, soviel ich will, ich muß in diesen zahllosen bleichen Gestalten, die der Schwerkraft durch eigenen Willen zu spotten scheinen, unheimliches Leben sehen. Wie sie jetzt rings hervorlugen und hervorkriechen, jetzt aufschweben, jetzt niedertauchen, sich nun umschlingen, jetzt zusammenschmelzen, sich wieder lösen und umkreisen und trennen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 320. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_320.jpg&oldid=- (Version vom 8.3.2024)