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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

seine Bedürfnisse von bezahlten Dienstboten zu fordern. Wie aber die Mutter gebildet ist, so erzieht sie ihre Kinder wieder, Fluch und Segen pflanzen sich in langer Reihe fort. Wer die Frau dem Hause entfremdet, der zerstört die Grundlagen, auf denen die Wohlfahrt unseres Volkes ruht. Wie viel Elend würde den Familien unserer Handwerker und Arbeiter oftmals erspart bleiben, wenn es in diesen Kreisen nicht so viel untüchtige Frauen gäbe!

Doch mit der Erleichterung der überschweren Schullast ist erst die kleinere Hälfte dessen geschehen, was gefordert werden muß. Auch der Lehrplan unserer höheren Mädchenschulen muß völlig umgestaltet werden. Es ist ein großer Irrthum, wenn man meint, das Mädchen nach denselben Grundsätzen unterrichten zu können, wie den Knaben. Der Zwang zu anhaltendem Denken führt den Knaben zu geistiger Schärfe, das Mädchen aber zu geistiger Trägheit, denn seine Stärke liegt nicht im kampfgerüsteten Verstande, sondern in dem feinen, richtigen Gefühl. „Männer richten nach Gründen, des Weibes Urtheil ist seine Liebe“ – dieses klare Wort Schiller’s scheint heute nicht mehr verstanden zu werden.

Noch schärfer sagt Immanuel Kant in seiner Abhandlung „Beobachtungen über das Gefühl des Erhabenen und Schönen“: „In den Gemüthscharakteren des weiblichen Geschlechtes liegen eigenthümliche Züge, die es von dem unsern deutlich unterscheiden und die darauf hauptsächlich hinauslaufen, sie durch das Merkmal des Schönen kenntlich zu machen. Alle Erziehung und Unterweisung muß dieses vor Augen haben, und alle Bemühung, die sittliche Vollkommenheit zu befördern. Mühsames Lernen oder peinliches Grübeln vertilgen die Vorzüge, welche dem weiblichen Geschlechte eigenthümlich sind.“

Diese goldenen Worte unseres größten Philosophen müssen die Richtschnur sein, nach welcher wir die Lehrpläne unserer höheren Mädchenschulen gestalten. Nicht „Thiergeripp’ und Todtenbein“ müssen wir unsern Töchtern bieten, sondern das volle Leben in seinen bedentendsten und schönsten Erscheinungen. Sicherlich gebührt der Religion die erste Stelle, aber wir wollen nicht einen großen Vorrath von theologischen Kenntnissen, Spitzfindigkeiten und Streitereien darunter verstehen, sondern die schlichte, warme Erfassung der Glaubenslehren, vor Allem zeige man an Beispielen aus dem Leben das Christenthum in seiner praktischen Anwendung.

Großmutters Gehülfin.
Nach einem Gemälde von Jos. Miller.


Fast alle Schülerinnen unserer höheren Mädchenschulen kennen von den Einrichtungen des bürgerlichen Lebens so gut wie nichts; in welcher Weise das Armenwesen gehandhabt wird, wie die öffentlichen Pflege-Anstalten eingerichtet sind, wie es in dem Haushalte, in der Küche des einfachen Arbeiters aussieht, das Alles ist meist gänzlich unbekannt, und doch würden passende Mittheilungen über solche Dinge für ältere Schülerinnen weit fesselnder und werthvoller sein, als dürre theologische Wissenschaft; für die Jahre der Selbstständigkeit aber würde dadurch auf dem Gebiete der wohlthätigen Bestrebungen der Blick unserer Frauen auf’s Beste geübt sein, und es würden nicht mehr, wie jetzt so oft, reiche Mittel in falscher Anwendung vergeudet werden. Gerade in Sachen der Religion wirkt nichts so mächtig, als das lebendige Beispiel, und nichts ist verderblicher und verhängnißvoller für den Charakter, als das thatenlose Sichgenügenlassen an frommen Gedanken. – Auch der Unterricht im Deutschen ist viel zu doctrinär; er müßte den Mädchen eine Freude sein, aber gewöhnlich ist gerade dieser Gegenstand ihnen besonders unliebsam. Man gebe auch hier mehr lebensvollen Stoff, und weniger dürre Theorie.

Die Schülerinnen, welche den höheren Mädchenschulen zugeführt werden, sprechen in der Regel alle von Haus aus ein richtiges Deutsch, man hört selbst bei sechsjährigen Kindern kaum jemals ein falsches Wort, sie lernen ihr Deutsch im Elternhause, und die tägliche Uebung ist die beste Lehrmeisterin, bei den Mädchen und Frauen der romanischen Völker ist sie sogar die einzige. Es ist nichts als kurzsichtige Pedanterie, wenn man behaupten will, daß die fortgesetzte praktische Uebung allein nicht rascher und sicherer zum Ziele führe, als trockene Theorie. Daß Mädchen vor jedem anhaltenden abstracten Denken stets zurückschrecken, ist längst anerkannte Thatsache, aber ebenso bekannt ist es auch, daß Mädchen durch begeisterte Liebe zu einem Gegenstande zu den größten, freudigsten, unermüdlichsten Anstrengungen veranlaßt werden.

Abstracte deutsche Grammatik in besonderen Stunden schenke man den Schülerinnen ganz, aber die Schätze unserer Literatur mache man ihnen so viel als nur irgend möglich zugänglich und erwecke in ihnen ein eingehendes und liebevolles Verständniß derselben; besonders setze man das jetzt fast ganz bei Seite geschobene deutsche Lied in seine Rechte ein.

Warum versäumt man es in unsern höheren Mädchenschulen oft so geflissentlich, den Neigungen der Schülerinnen mehr Rechnung zu tragen? Man zwingt sie zu Arbeiten, die sie nur mit Unlust angreifen, aber die Neigungen werden dadurch nicht beseitigt, sie suchen sich ihre eigenen Wege und gerathen dadurch oft auf die bedenklichsten Irrwege. So lange man daran festhält, bei dem Unterrichte in der deutschen Literatur die Mädchen nur fremde Urtheile über nie gesehene Werke auswendig lernen zu lassen, wird man sich nicht über den so häufigen Mangel an wirklichem Geschmack, an ernstlich gebildetem Verständniß für unsere classischen Werke wundern können.

Daß unsere Theater bei Aufführungen classischer Stücke leer bleiben, während jede moderne Posse sie bis auf den letzten Platz füllt, daran sind auch unsere Schulen schuld. Man führe unsere Jugend an die lebendigen Quellen heran, man gebe ihnen von klein auf passend ausgewählte Lesestücke, und zwar so viel als möglich, aber man verleide sie ihnen nicht durch die stereotypen Fragen nach Subject und Prädicat, sondern man öffne ihre Augen für die Erkenntniß von Wahrheit und Schönheit der Form und der Gedanken, dann wird man unvergängliche, edle, sorgsam gehütete und bewahrte Schätze gewinnen, statt des erdrückenden Ballastes schnell vergessener Regeln. Die Griechen schöpften lange Zeit hindurch den beste Theil ihrer Bildung aus dem Homer, sie lernten keine einzige fremde Sprache, ihre Bildung war ausschließlich vaterländisch: – standen sie in ihrer allgemeinen Bildung etwa tiefer, als wir heute? – Die Verhältnisse, in denen wir leben, sind ja viel weiter gestaltet, aber gerade deshalb müssen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 316. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_316.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2021)