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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Ueberschauen wir in aller Kürze das, was unsere höheren Mädchenschulen ihren Schülerinnen bieten. In der Religion werden die biblischen Geschichten des Alten und des Neuen Testamentes, die Glaubensartikel mit den Erklärungen und vielen Beweisstellen für jeden Punkt und einige Dutzende Kirchenlieder gelernt; die Begriffe des Glaubens werden Wort für Wort definirt, der Unterschied von Deist und Theist wird angegeben, die Streitigkeiten des Concils zu Nicäa werden reproducirt etc.; unsere Töchter verstehen mehr Theologie, als in früheren Jahrhunderten die Geistlichen. Auf dem Gebiete der deutschen Sprache werden die Schülerinnen schon im Alter von sieben Jahren unter die Zucht der Grammatik gestellt; sie lernen im Laufe der Schulzeit jeden Begriff in sein ihm gebührendes Fach einfügen als Concretum oder Abstractum, als Stoff-, Sammel-, Eigennamen, als starkes oder schwaches Verbum, als Adjectiv oder Adverb, als entgegenstellende, erweiternde, bedingende Conjunction, sie unterscheiden „nackten“ und „bekleideten“, Haupt- und Nebensatz, Subject- und Objectivsatz, Attributiv- und Adverbialsatz (Papa Obergerichtsrath, Onkel Medicinalrath, könnt ihr das auch?). Aus der deutschen Literatur kennen sie die Regeln, nach denen ein Meistergesang angefertigt wird, sie berichten über die Verdienste des Martin Opitz um die deutsche Poeterei, sie richten in dem Streit zwischen Leipzigern und Schweizern, sie zählen die Dichter unseres Jahrhunderts an den Fingern her, auch wissen sie genaue Rechenschaft darüber zu geben, warum Schiller’s Jungfrau von Orleans die Bezeichnung einer romantischen Tragödie beanspruchen kann. „Literaturgeschichte“ ist oft nichts anderes, als Namen und Zahlen und auswendig gelernte Urtheile über Dichter, deren Werke die Schülerinnen nie gesehen haben.

Es schließen sich nun die fremden Sprachen an, die französische und die englische. Das neunjährige Mädchen lernt an der Hand der Grammatik „denken“, wöchentlich vier Stunden, später fünf oder sechs; wenn das Englische dazukommt, wöchentlich acht bis zehn Stunden. Hier geht alles nach unerbittlichen Regeln, deren unerläßlicher Vorrath schließlich nach Hunderten zählt. Lectüre wird allein auf der Oberstufe und auch dort nur nebenbei getrieben.

In der Geschichte werden alle Völker der Erde herangezogen, alle Kriege, alle Haupt- und Staatsactionen beleuchtet; das Quantum der Jahreszahlen, die gelernt werden müssen, beläuft sich an einzelnen Anstalten auf mehr als ein halbes Tausend, mindestens aber auf mehrere Hunderte. In der Geographie bleibt kein Winkel der Erde und des Himmels unbesucht, jedem Flusse werden gewissenhaft seine Nebenflüsse zugetheilt, jedem Berge die Bezeichnung seiner Höhe, jedem Lande seine Quadratmeilen, jeder Stadt die Zahl ihrer Einwohner angeheftet. Der Rechenunterricht lehrt Zinsen nach Viertelprocent auf Tage bemessen, Gleichungen und Proportionen werden tractirt. Auch geometrische Figuren werden gezeichnet, die Congruenzsätze und die Flächenberechnungen werden, wenn irgend möglich, noch in Betracht gezogen.

Das Gebiet der Naturwissenschaften eignet sich vortrefflich zum Classificiren. Jedenfalls ist es unerläßliche Forderung sowohl für die anmuthige Wirthin des reichen Hauses, als für die sorgsame Mutter am Bettchen ihres kranken Kindes, daß sie weiß, wie viel Zähne und wie viel Krallen der Waschbär hat, in welche Classe nach Linnaeus der türkische Schwarzkümmel gehört, und wie der Kopf des Bandwurms, die Füße der Spinnen und Kröten und die Sauginstrumente der Blattläuse beschaffen sind. Und von den Gebieten der Chemie, Mechanik, Optik, Akustik läßt sich ebenfalls manche schöne Beute nach Hause tragen.

Vor allen Dingen aber muß alles aufgeschrieben werden. Sprachregeln, welche eingeübt sind, werden zu größerer Sicherheit noch einmal in ein besonderes Heft geschrieben, Uebertragungen aus fremden Sprachen werden aufgeschrieben, Exempel werden gerechnet, dann in die Kladde und endlich in’s Reine geschrieben, Vorträge über Gegenstände aus den Naturwissenschaften werden ausgearbeitet, sogar Regeln über die Zeichenkunst werden zu Papier gebracht. Unsere neunjährigen Töchter beschreiben mehr Papier als ihre Väter früher in der Prima des Gymnasiums; jetzt ist freilich auch das letztere anders geworden.

Ein einziger Blick auf die Masse dieses Lehrstoffes läßt erkennen, daß viel Zeit erforderlich sein muß, ihn zu bewältigen, besonders wen man bedenkt, daß über die hier gezeichneten Grenzen öfter noch weit hinausgegangen wird. So z. B. lehren nicht wenige Anstalten auch noch Italienisch, und die Schülerinnen der höheren Mädchenschule in Zürich lesen dazu noch den Cäsar und den Cicero und übersetzen aus dem Deutschen ins Lateinische.

Die Zahl der Unterrichtsstunden beträgt auf den höheren Mädchenschulen Deutschlands fast ausnahmslos schon für zehnjährige Mädchen wöchentlich zweiunddreißig, dazu kommen je nach dem Alter eine bis drei Stunden täglich für häusliche Arbeiten. Auch das Straßburger Gutachten hält eine Erleichterung dieser Last für dringend geboten; es weist auf die vielfachen schweren Leiden hin, welche gerade dem Mädchen aus übermäßiger geistiger Thätigkeit und Mangel an Bewegung in frischer Luft erwachsen. Frauenkrankheiten im engsten Sinne des Wortes, Bleichsucht, Hysterie, Nervosität, Veitstanz, Epilepsie, Scoliose in mehrfachen Erscheinungen, Kurzsichtigkeit (in der Seminaristinnenclasse zu Görlitz 67 Procent!) werden durch mangelhafte Schuleinrichtungen theils gefördert, theils geradezu hervorgerufen. Doch trifft ein Tadel auf diesem Gebiete weniger die öffentlichen Anstalten, als vielmehr die Privatschulen und besonders die Pensionate, in denen sehr oft die verwerflichsten Zustände herrschen.

Doch nicht allein der Körper leidet unter dieser Ueberzahl von Schul- und Arbeitsstunden, es gehen noch andere und schlimmere Uebel daraus hervor. Wenn das Mädchen zehn Jahre hindurch von 8 bis 12 und von 2 bis 4 Uhr die Schule besucht, wenn bei weiteren Schulwegen die beiden Mittagsstunden durch die Wege und durch die Mahlzeit in Anspruch genommen werden, wenn von 5 bis 7 Uhr, und oft noch länger, die häuslichen Arbeiten erledigt werden müssen, so ist das Mädchen gerade in denjenigen Jahren (6 bis 16), in denen sich die Neigungen entwickeln, welche das ganze spätere Leben gestalten, dem Hause und der Familie so gut wie ganz entzogen. Die Mutter wirkt nur nebenbei, die Schule hat die Tochter für sich allein in Beschlag genommen. Das Mädchen wird in der einseitigsten Weise der praktischen Thätigkeit entfremdet, es wird durch die auf falscher Grundlage aufgebaute Schule in eine Bahn gelenkt, die man als eine höchst bedenkliche gerade auch dann bezeichnen muß, wenn man den großen Fleiß, mit welchem in unsern öffentlichen höheren Mädchenschulen durchweg gearbeitet wird, ungeschmälert anerkennt.

Versuchen wir die Folgen dieses falschen Systems und dieser Unterdrückung des Hauses durch die Schule zu überschauen. Angenommen, daß die Ziele, welche der Lehrplan vorschreibt, voll erreicht werden – was bleibt von dieser hastig aufgehäuften Masse der verschiedenartigsten Kenntnisse für’s Leben? In wenigen Jahren entsinkt diese Last dem Gedächtnisse, und oft, recht oft wird sie als überlästige Bürde unwillig abgeschüttelt. Und das kann auch nicht anders sein, denn während die Realschulen ihre Zöglinge durchschnittlich bis zum zwanzigsten Jahre behalten und dadurch im Stande sind, ihnen eine abgeschlossene Bildung zu geben, brechen unsere höheren Mädchenschulen ja gerade in der Zeit ab, wo auf den vielen in Angriff genommenen Gebieten die Elemente eben überwunden sind und eigene Thätigkeit der Schülerinnen nun erst beginnen könnte und müßte.

Wenn nun aber die höhere Mädchenschule in ihrer heutigen Gestalt eine abgeschlossene Bildung ihre Schülerinnen selbst in günstigsten Fällen kaum zu geben vermag, hat die Schule dann dafür gesorgt, daß in die Seele des Mädchens ein deutlich erkanntes und fest und freudig ergriffenes Ideal gepflanzt ist, welches für das ganze übrige Leben als zuverlässiger Führer zu dem richtigen Ziele waltet?

Wenn wir diese Frage doch bejahen könnten!

Den Zusammehang mit dem wahren Lebensboden des Weibes, mit dem Hause und der häuslichen Sorge, lockert die Schule in der bedenklichsten Weise und zieht das heranwachsende Mädchen auf ein anderes, fremdes Gebiet, auf dem es seiner ganzen geistigen und körperlichen Anlage nach ewig nur ein Fremdling bleiben kann, und bei dieser Verpflanzung büßt das Mädchen so leicht sein edelstes Eigenthum, die warme, tiefe Empfindung, die freudige Bereitwilligkeit zu aufopfernder Fürsorge ein.

Der Straßburger Bericht sagt: „Der reale Unterricht schützt das Weib nicht vor Verrohung, er liefert sogar gemeinen Naturen die Waffen in die Hand, womit sie der Gesellschaft doppelt gefährlich werden.“

Aber noch gefährlicher als die gewaltthätigen Jüngerinnen der Commune sind diejenigen Frauen, welche alle häusliche Sorge in offener Verachtung gemietheten Dienstboten zuschieben, geduldige Sanftmuth und opferwillige Hingebung als etwas Erniedrigendes

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 298. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_298.jpg&oldid=- (Version vom 14.4.2021)