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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884)

Emanuel Geibel
† 6. April 1884.


„O Frühling, Frühling, der in mildem Thauen
Voll Schöpfungswonne du das All durchdringst,
Der du das Meer, den Himmel lässest blauen
Und rauschend mit dem Bach vom Felsen springst –
O Frühling, tiefer, süßer Gotteshauch,
Sei mir gegrüßt und fülle du mich auch,
Wie eine Welle leg’ dich an mein Herz
Und spüle sanft hinweg den letzten Schmerz.“

So ist Dein „Frühlingshymnus“ einst erklungen,
So hast einmal den Lenz Du angefleht. –
Er hat erhört Dich! Du hast ausgerungen;
Es ist der letzte Schmerz hinweg geweht
Vom Gotteshauch. – Früh wie fast nie zuvor
Kam nun der Lenz im bunten Blumenflor,
Doch, eh’ der Philomele Lied erschallt’,
Starb eine Nachtigall im Dichterwald.

Dein Mund verstummte. – Solche süße Weise,
Wie sie gequollen, Freund, aus Deiner Brust,
Hat schon seit Jahren in dem Sängerkreise
Zu singen, ach, kein Einz’ger mehr gewußt!
Wie von des Maimonds Blüthenduft berauscht,
Im Wohllaut schwelgend, haben wir gelauscht.
Der Schönheit Evangelium, es klang
Wie Nachtigallenlied in Deinem Sang!

So tönte hell Dein Festgesang der Minne
Und griff an unser Herz mit heil’ger Macht,
Doch zu dem wüsten Bacchanal der Sinne
Hast nie, ein Spielmann, Du Musik erdacht!
Nie hast Du, buhlend um des Eintags Ruhm,
Entweiht des Dichters hohes Priesterthum,
Und nie verhüllt vor Dir in Schleier dicht
Die keusche Scham ihr holdes Angesicht!

Doch mehr noch! Nicht allein zum sanften Kosen
War, Sänger, Deine Muse nur geschickt,
Dein Aug’ hat durch der Zeitenstürme Tosen
Prophetisch Reich und Kaiser längst erblickt!
Ein Dreigestirn in Deiner Seele stand:
Gott, Freiheit und das deutsche Vaterland,
Die Drei, Dir über Alles hoch und werth –
Und unter Blumen trugst Du auch ein Schwert! –

Ja, Du warst fromm, doch durftest du bekennen
Dich frei von jeder Dogmensclaverei!
„Der Freiheit eigen“ mochtest Du Dich nennen,
Doch warst Du nie der Diener der Partei.
Ein deutscher Mann in tiefsten Wesens Grund,
Ein deutscher Mann bis in die letzte Stund’ –
Und doch ein Mann, dem offen allerwärts
Für jedes Volkes Bestes Geist und Herz! – –

Dein Freund, der Frühling, er ist nun gekommen.
Man trug Dich zu des Friedhofs Ruheplatz.
Der Zeiten Welle hat Dich fortgenommen,
Doch bleibt uns Deines Schaffens Perlenschatz!
Er leuchtet hell in Deutschlands Dichterkron’
In reinem Glanze, theurer Musensohn,
Und über Deinem Todtenhügel steht
Ein Stern des Ruhmes, der nicht untergeht. –
 Emil Rittershaus.

*  *  *


Als ob ein ruhmgekrönter Feldherr sein Auge geschlossen hätte zum ewigen Schlafe, oder ein Führer des Volkes für immer geschieden wäre von seiner getreuen Schaar, so trauert heute Alldeutschland um Emanuel Geibel. Und in der That verliert in ihm die deutsche Dichtung der Gegenwart einen wohl erprobten Feldherrn, verliert die Nation einen geistigen Führer, dessen sangreicher Mund ihr einst Einheit und Macht prophezeit. Wie tief aber auch unsere Trauer sein mag, sie wird verklärt durch das Bewußtsein, daß der Heimgegangene, dessen frisches Grab wir bekränzen, ein Liebling des Volkes war und, da er noch unter uns weilte, die Siegespalme erhielt. Ja, in den Tagen, wo der unerbittliche Tod ihn dahinraffte, bereiteten wir uns vor, mit Geibel ein Fest zu feiern, wie es nur selten einem Dichter beschieden wird.

Für den 19. April war eine Jubelausgabe der „Jugendgedichte“ von Emanuel Geibel angekündigt; in hundertster Auflage sollte der Dichter das Büchlein, das ihm die Herzen seines Volkes erobert, erscheinen sehen und in ihm den festlich geschmückten Zeugen des frühen Kampfes und des endlichen Sieges begrüßen.[1]

Die zeitgenössischen Kritiker urtheilten freilich anders über das Büchlein und dessen Verfasser. Wie gar mancher übergescheidte Recensent hätte höhnisch lächelnd die Achseln gezuckt, wenn man ihm 1840 gesagt hätte, daß Emanuel Geibel, der Verfasser des Bändchens lyrischer Versuche, das vor ihm auf dem Schreibtische lag, in zwanzig Jahren als Führer einer angesehenen Dichterschule, in vierzig Jahren als Altmeister unserer gesammten poetischen Literatur verehrt werden würde! Wer war denn damals, im Herbste 1840, Emanuel Geibel? Was wußte man von ihm? Wie stellten sich seine Gedichte dar? Ei nun, Geibel war in der Welt eben eigentlich noch gar nichts. Ein junger Philologe, der eine Zeitlang in Griechenland Hofmeister im Hause eines vornehmen Russen gewesen, vor Kurzem aber wieder in die Heimath zurückgekehrt und nun ohne Stelle und Brod war. Von gelehrten oder literarischen Arbeiten des jungen Mannes war noch nichts bekannt geworden. Doch ja, er hatte vor wenigen Monaten gemeinsam mit seinem Freunde Ernst Curtius unter dem Titel „Classische Studien“ recht gute Uebersetzungen aus antiken Lyrikern herausgegeben; allein wie Viele hatten sich denn überhaupt schon um das dünne Bändchen gekümmert? Dagegen ließ sich nicht leugnen, daß das Glück dem jungen Poeten in seinem Privatleben bisher hold gewesen war und ihm die Gunst einflußreicher Männer und Frauen beschert hatte.

Friedrich Emanuel Geibel war am 18. October 1815 zu Lübeck als siebentes Kind seinem würdigen Vater, dem Pastor der reformirten Gemeinde daselbst, geboren worden. Im frommen Glauben hatte ihn der Vater ernst und streng erzogen; die Mutter aber, emsig sorgend um ihren Liebling bemüht, hatte schon dem Kinde das Auge für den Reiz der Natur und das Ohr für den des schlichten Volksgesanges geöffnet. Die alten deutschen Märchen, welche jüngst erst von den Brüdern Grimm aus dem Schachte

  1. Die Jubiläumsausgabe der „Jugendgedichte“ von Emanuel Geibel erscheint im Verlage der J. G. Cotta’schen Buchhandlung in Großoctav und ist mit dem Jugendportrait des Dichters geschmückt.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1884). Leipzig: Ernst Keil, 1884, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1884)_280.jpg&oldid=- (Version vom 8.1.2021)